Kürzlich habe ich von viel jüngeren Teilnehmenden eines Schreibworkshops gehört, dass sie vielleicht noch ein, zwei neue Sachen in ihrem Leben vorhaben könnten. Meine Reaktion war still.
Wenn ein fixiertes Sternzeichen wie ich etwas in den vergangenen Jahren, ja Jahrzehnten lernen durfte, dann das: Es geht noch vieles in diesem Leben. Selbst meine Oma rief im Alter von 90 Jahren noch: „Endlich frei!“ Ob das bei uns in der Familie liegt, alles für möglich zu halten? Eine Frau, die ich hier nicht näher beschreiben darf, lebt es mit über 80 auch gerade vor, dass es immer einen positiven Weg zu den Herausforderungen des Lebens gibt. Wenn also viel Jüngere an den Chancen der Zukunft zweifeln, möchte ich sie eigentlich mit weit aufgerissenen Augen anschauen und ihnen vorrechnen, dass Alter nur ein Gefühl, aber keine Subtraktion an Möglichkeiten ist.
Beweglichkeit zahlt sich im Leben aus
Der Stier in mir, der am liebsten immer auf derselben Wiese grasen möchte, es immer nur mit einem Schmetterling zu tun haben würde, der sich auf seiner Stirn niederlässt und gut ohne Abwechslung zurechtkommt, durfte das lernen: Das Leben hat andere Pläne, und zwar auf allen Ebenen. Da kann man natürlich in den Widerstand gehen und alles bekämpfen, was dem Schmetterling an die Flügel will. Man kann aber auch „Danke“ sagen. Und ich bin sehr dankbar für alles, was zu meiner Beweglichkeit im Leben beigetragen hat.
Begonnen hat das wohl mit einer sehr langen Partnerschaft, die ich mit 30 begonnen habe. In diesem Alter sucht man sich ja noch komplementäre Partner:innen, weil man nie ganz sicher ist, ob man selbst schon vollständig ist. Und in dieser Beziehung durfte ich vor allem eines lernen: wie man zu sich selbst stehen kann. Nicht dass ich es während dieser 18 Jahre zur Meisterschaft gebracht hätte - manchmal sogar zum Gegenteil. Doch der Spirit war: Tu‘s einfach, denn du bist der einzige Mensch, mit dem du wirklich Dein Leben verbringst.
Sich selbst lieben lernen
Nachdem sich diese Beziehung transformieren durfte, stellte ich fest, dass es doch einiges gab, wozu ich stehen konnte. Und mit jeder Facette, die ich neu entdeckt habe, ist mein Selbstbewusstsein gewachsen. Nämlich dafür, dass ich im Grunde vollkommen in Ordnung bin. Das hatte zur Folge, dass ich immer weniger auf die Suche nach komplementärer Energie ging, sondern froh war, wenn jemand in mein Leben kam, der auch in sich gefestigt war. Das ist nicht zu verwechseln damit, dass man sich nicht mehr verändern möchte, sondern bedeutet vielmehr, dass man weiß, wer man ist, was man möchte und wie man es erreicht. Auf Facebook habe ich ein wunderbares Gedicht von Jay Raymond gelesen, beschreibt, welcher Mensch ich dadurch geworden bin:
„Verliebe dich in eine Frau, bei der du dich unwohl fühlst.
Eine, die sich ganz zu Hause fühlt,
in ihrer eigenen Haut
und in ihrer eigenen Gesellschaft.
(...)
Verlieb dich in eine Frau, die multidimensional ist.
Die Ebenen hat,
und Schichten,
und dunkle Ecken,
und Kurven, die du erforschen musst."
Anderen ein Gefühl des Unwohlseins zuzumuten und sich trotzdem in der eigenen Haut wohlzufühlen, aber auch seine eigenen dunklen Ecken zu kennen, hat vor allem eines zur Folge: Man wird sanfter. Mit sich und anderen. Und dann wird wirkliche Begegnung möglich, die nahezu unweigerlich Veränderung mit sich bringt.
Veränderung ist ansteckend
Mich in meiner eigenen Gesellschaft wohlzufühlen, hatte über die Jahre zur Folge, dass sich auch ganz viele andere Menschen in meiner Gesellschaft wohlfühlten. Und an einem sonnigen Nachmittag, an dem ich mein eigenes Sein besonders genossen habe, kam dieser eine Mensch in mein Leben, der es nun auf eine ganz andere Ebene hebt. Warum? Weil auch er bereit für eine Veränderung war, jenseits der 50.
Keiner von uns hätte gedacht, dass am Ende eine Hochzeit und eine Übersiedlung stehen würden. Und doch ging jeder gemeinsame Schritt in diese Richtung. Was andere mit Mitte, Ende 20, vielleicht auch in ihren 30ern auf ihre To-do-Liste setzen, hat sich für mich persönlich erst mit über 50 eingestellt. Und es war genau der richtige Zeitpunkt für mich. Weil ich meine Ebenen und Schichten, meine dunklen Ecken und verschiedenen Dimensionen erst im fortgeschrittenen Alter akzeptieren, leben und feiern konnte. Dass sich mein Mann genau in diese Frau verliebt hat, zeigt, dass es immer möglich ist, sein Leben zu ändern, ihm ein neues Gewürz hinzuzufügen, auf gerader Strecke abzubiegen und etwas Neues zu beginnen.
Wenn Menschen darüber nachdenken, ob sich denn etwas noch auszahlt, weil sie in ihren Augen vielleicht zu alt, zu bequem oder zu ängstlich für eine Veränderung sind, dann kann ich nur sagen: Es zahlt sich immer aus. Denn das Leben bietet uns immer das an, wofür wir bereit sind. Das dürfen wir dem Leben ruhig glauben und uns trauen. Die Belohnung ist eine unglaubliche Lebendigkeit und Freude, auf die niemand verzichten sollte.
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