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Leben

Wenn man den historischen Berichten glauben darf, dann hat Gautama Buddha jeden Kult um seine Person verabscheut. Trotzdem (oder vielleicht am Ende deswegen?) gehört er heute zu den kultigsten Kultfiguren, die wir haben.

Viele glauben, Jesus Christus würde es vor der Praxis des heutigen Christentums grausen. Was Gautama Buddha zur Praxis des heutigen Buddhismus sagen würde, darüber zu spekulieren, fehlt mir die Kompetenz. Über das, was in den Salons des satten Mittelstandes westlicher Industriegesellschaften über ihn fantasiert wird, würde er vermutlich milde lächeln. Wenn Buddha-Figuren und Räucherstäbchen als Teaser für Partygespräche und als Hintergrunddekoration für die Urlaubsdias herhalten müssen, dann könnte man schon auf die Idee kommen, dass es einen systematischen, soll heißen, aufgrund von einigermaßen zwingenden Gesetzmäßigkeiten zustande gekommenen Prozess geben könnte, der zur Veroberflächlichung der Suche nach Wahrheit führt. Gibt es vielleicht so etwas wie einen mehr oder weniger systematischen Prozess der spirituellen Inflation, in dem Symbole für Spiritualität zunehmend an die Stelle dieser Spiritualität treten und sie damit obsolet machen?

Die Suche nach spiritueller Wahrheit hat zwei unangenehme Eigenschaften: Erstens ist sie mühsam, zweitens ist sie unbezahlt. Moderne Soziologen wie der Franzose Pierre Bourdieu unterscheiden zwischen mehreren ‚Zahlungsmitteln' moderner Gesellschaften. Neben finanziellem/ökonomischem Kapital gibt es auch soziales Kapital, kulturelles Kapital und symbolisches Kapital. Und wenn die Suche nach Wahrheit schon nicht in ökonomischem Kapital abgegolten wird, dann muss sie doch zumindest eine der anderen Kapitalformen vermehren: Warum sonst sollte man sich die Arbeit antun? Zumindest dann stellt sich diese Problematik, wenn man dem abendländischen Effizienzdenken verhaftet ist. Und diesem Denken nicht verhaftet zu sein, ist eine Aufgabe, die sehr viel schwieriger ist, als es vielleicht auf den ersten Blick scheinen mag. Wenn Sie mir das nicht glauben, dann beantworten Sie mir die folgende Frage: Rechnet es sich, auf die Frage zu verzichten, ob sich etwas rechnet?

Alltagssprachlich gesehen ist so eine Frage vielleicht ein Bonmot, philosophisch gesehen ist sie eine unendliche Rekursion. Zu beantworten ist sie jedenfalls nicht. Die Geschichte der Medizin lehrt uns, dass Naturvölker schon sehr früh spirituelle Heiler gekannt haben. Das waren noch keine geistigen Führer im Sinne späterer hochkomplexer Gesellschaften. Zu ihnen ging man, wenn man Beschwerden hatte. Diese Beschwerden waren entweder banale Verletzungen oder Verzauberungen. Verletzungen waren mit Heilkräutern behandelbar, Verzauberungen waren komplizierter. Hier mussten Heilungszeremonien her, die mitunter recht aufwendig sein konnten. Die Entscheidung, ob es sich um eine einfache Verletzung oder um eine komplizierte Verzauberung handelte, wurde häufig sehr pragmatisch getroffen: Wenn die bekannten Heilkräuter nicht halfen, dann war es etwas Ernstes und erforderte Geistheilung. Es wurde somit zunächst die einfachere Heilkräuterbehandlung angewandt, in der Hoffnung, sich die kompliziertere Geistheilung ersparen zu können. Eigentlich mutet diese Vorgehensweise doch recht modern an. Wenn bei Kopfschmerzen keine Tablette mehr hilft, dann muss man eventuell doch den sehr viel kostspieligeren Psychotherapeuten aufsuchen. Das Effizienzdenken – jedenfalls einmal am Beispiel der Behebung von Beschwerden – ist also keine Erfindung des westlichen Abendlandes. Es ist wesentlich älter und sitzt wesentlich tiefer. Die Suche nach Wahrheit, nach Innerlichkeit, nach dem Weg zu sich selbst, nach Erleuchtung – wie auch immer man die Tatsache umschreiben möchte, dass die Suche nach dem Sinn des Suchens ihr Ziel in sich selbst hat –, diese Suche also funktioniert nicht sehr gut, wenn man sie möglichst effizient organisieren möchte. Die Weisen aller Religionen versuchen seit Hunderten von Jahren, ihren Gläubigen diese Erkenntnis nahezubringen: mit relativ wenig Erfolg, wie es scheint. Die in manchen tibetischen Klöstern geforderte Sorgfalt, mit der Mandalas mit buntem Sand gestreut werden, nur um im Wind zu verwehen, sobald sie fertig sind, ist möglicherweise einer der Versuche, den Schülern, die Erleuchtung suchen, die Absurdität des Effizienzgedankens klarzumachen. „Gott, schick mir Geduld, aber ein bisschen plötzlich", soll einmal ein westlicher Besucher eines buddhistischen Klosters anlässlich einer solchen Übung ausgerufen haben.

 

Buddha als Gartenzwerg

Was für ein Glück, dass der Buddha in der Vitrine keinen Gehorsam fordert, keine Arbeitsaufgaben stellt und keine religiösen Übungen verlangt. Er repräsentiert still und bescheiden ein Stück symbolisches Kapital, das man, sofern man gut im Feilschen ist, schon für relativ wenig ökonomisches Kapital erwerben konnte und dann beim Abendessen mit (wirtschaftlich nach Möglichkeit besser gestellten) Freunden in soziales Kapital verwandeln kann: „Also dieser Workshop in den tibetischen Bergen – spirituell hat er uns wirklich wahn-sinn-ig viel gebracht." Günstiger geht's notfalls auch in der Volkshochschule. Mit ein wenig Glück kann man das so ergatterte soziale Kapital etwas später durch gezieltes Networking, erfolgreich dank Statuszugewinn, wieder in ökonomisches Kapital zurückverwandeln. Der wirtschaftliche Kreislauf schließt sich, man hofft, mit finanziellem Zugewinn.

Der US-amerikanische Soziologe Erving Goffman hat zur Beschreibung von Selbstdarstellungstechniken in menschlichen Interaktionen die Begriffe ‚Vorderbühne' und ‚Hinterbühne' geprägt. Die Vorderbühne, vielleicht der Salon, dient der Selbstdarstellung gegenüber jenen Interaktionspartnern, die man als Quasi-Öffentlichkeit wahrnimmt, während die Hinterbühne, vielleicht das Schlafzimmer, der Ort der Intimität ist, den man nur vertrauten Personen zugänglich macht. Jedes Zusammentreffen mit sogenannten ‚Bekannten', also Personen, von denen noch nicht so ganz entschieden ist, ob und wie weit sie den Hinterbühnenbereich der eigenen Privatheit betreten sollen, schafft somit ein Entscheidungsproblem. Requisiten der Hinterbühne, auf der Vorderbühne aufgestellt, schaffen eine Möglichkeit, dieses Problem zu bearbeiten, weil sie Stimuli darstellen: Anhand der Reaktionen auf diese Stimuli kann getestet werden, ob die Besucher der Vorderbühne auch hinterbühnentauglich sind. Buddha-Statuen auf dem Kaminsims sind solche Requisiten der Hinterbühne, die als Hilfsmittel zur Inszenierung von Innerlichkeit auf der Vorderbühne ausgestellt werden. Wenn die Assoziationen der Besucher auf die Statue der strengen Prüfung des Gastgebers standhalten, wenn sie zum Beispiel genug höhere Bildung erkennen lassen, dann kann man auch eventuell einen weiteren gemeinsamen Schritt in Richtung Hinterbühne überlegen.

Fassen wir zusammen: Die Banalisierung des Spirituellen hat System. Sie dient einerseits dem Einkommen, und zwar auf dem Wege des Einstiegs in wirtschaftlich relevante Netzwerke durch Anspielungen auf geistigen Status, und sie dient andererseits als Testmethode für ein erfolgreiches Management sozialer Beziehungen. Ob der Weg des Gautama Buddha zur Erleuchtung führt, das wird jede/r, der/die diesen Weg geht, selber erkennen. Aber dass die Holzpuppe des Gautama Buddha zu anregenden Partygesprächen führt, das steht außer Frage. Auch nicht schlecht.

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Dr. Anselm Eder

Dr. Anselm Eder

Dr. Anselm Eder, geboren 1947 in Wien, hat bis 2012 als Universitätsprofessor am Institut für Soziologie mit Forschungsschwerpunkten unter anderem in den Bereichen ‚Medizinische Soziologie‘, ‚Körpersprache als Beobachtungsfeld‘ und ‚Simulation sozialer Interaktionen‘ gearbeitet. Seit ...
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