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Leben

Warum handeln Menschen grausam und gibt es evolutionsbiologische Grundlagen für dieses Verhalten? 

Gibt man das deutsche Wort ‚Grausamkeit' in Google ein, dann erhält man weiterführende Links, die sich vor allem mit Aspekten der Ethik, des Terrors im nationalsozialistischen Regime und der allgemeinen Definition im Strafrecht beschäftigen. Zum entsprechenden englischen Begriff ‚cruelty' erhält man hingegen unter den ersten 50 Verweisen fast ausschließlich Treffer, die die Schattenseiten agroindustrieller Tierhaltung, Tierversuche und Gründe für Veganismus zum Thema haben. In beiden Sprachen ist man sich jedoch einig, dass niemals Tiere selbst, sondern nur Menschen grausam handeln können.

 

Sollten manche Tierarten tatsächlich zu so etwas wie Mord fähig sein?


Dieser Behauptung kann man auf den ersten Blick zustimmen, doch wenn man sich die Lebensweisen mancher Tiere genauer ansieht, scheint dies nicht mehr zu stimmen. Trematoden zum Beispiel sind Saugwürmer, die an Schnecken parasitieren. Die Eier des Saugwurms gelangen mit dem Kot von Vögeln in die Umwelt. Auf feuchten Wiesen bohren sie sich dann in Bernsteinschnecken hinein und setzen sich im Verdauungstrakt fest. Von dort aus wachsen sie durch den ganzen Körper der Schnecke bis in ihre Fühler. Diese werden vom Saugwurm vollständig ausgefüllt, so dass diese Organe riesenhaft vergrößert sind und heftig pulsieren. Die Schnecke kann diese nun nicht mehr einziehen und die auffällige Farbe und Bewegung der Fühler lockt Vögel an, die diese wichtigen Sinnesorgane ausreißen. Da Schnecken über ein Nervensystem verfügen, ist dies für sie nicht nur schmerzhaft, sondern sie leben auf diese Weise verstümmelt noch einige Tage weiter.
Parasiten – und sei ihr Lebenszyklus noch so raffiniert angepasst – erfreuen sich nie menschlicher Wertschätzung. In diesem Fall könnte man einwenden, es wären sogenannte ‚niedere' Tiere, die über keinen freien Willen verfügen und eher als Reiz-Reaktions-Maschinen verstanden werden können. Aber auch die uns nächstverwandten Schimpansen zeigen Verhaltensweisen, die nach menschlichen Maßstäben überaus grausam sind. Die Verhaltensforscherin Jane Goodall fand in den 1960er Jahren heraus, dass – entgegen der damals vorherrschenden Meinung – diese Menschenaffen keine reinen Vegetarier sind, sondern gerne andere Affenarten jagen und fressen. Meist sind es aber nur junge Affen der Gattung Colobus, deren sie habhaft werden können. Damit ihre Beute nicht mehr fliehen kann, brechen Schimpansen den Jungtieren zuerst die Arme und Beine. Dann wird der Affe in kleine Stücke gerissen und verteilt. Ein vergleichbares Verhalten wäre in einer menschlichen Gesellschaft wiederum streng geächtet und würde strengstens bestraft werden. Im obigen Fall tendieren wir dann wohl wieder dazu, Tiere als unbeseelte Lebewesen zu sehen und ihnen die Verantwortung für ihr Handeln abzusprechen.

 

Jemand, der andere getötet oder gequält hat, sucht nicht nach Erklärungen dafür.


Der niederländische Primatenforscher Frans de Waal schrieb in seinem Buch ‚Wilde Diplomaten' über einen geplanten und grausam ausgeführten Mord unter Schimpansen. Der Zweite in der Hierarchie verbündete sich mit anderen männlichen Affen und diese überfielen das regierende Alphamännchen in der Nacht in seinem Käfig. Aber anders als sonst bei Rangordnungsstreitigkeiten wurde das Opfer nicht nur mit Drohgesten attackiert, sondern umgebracht. Dazu wurden ihm alle Finger und der Hodensack abgebissen. Diese brutale und gezielte Vorgangsweise, so Frans de Waal, hätte er bis dahin noch nie bei Auseinandersetzungen von Menschenaffen beobachtet. Sollten manche Tierarten tatsächlich zu so etwas wie Mord fähig sein? Mord ist nach österreichischem Recht jede vorsätzliche Tötung. In Deutschland oder der Schweiz werden zusätzlich noch bestimmte verwerfliche Motive, wie zum Beispiel Heimtücke oder Grausamkeit, für die Erfüllung eines solchen Tatbestandes herangezogen. Der Begriff der Grausamkeit ist ebenfalls gesetzlich definiert: „Jede Tötung, bei der dem Opfer in gefühlloser, unbarmherziger Gesinnung Schmerzen oder Qualen körperlicher oder seelischer Art zugefügt werden, die nach Stärke oder Dauer über das für die Tötung erforderliche Maß hinausgehen." Diese juristische Formulierung hilft aber bei der Frage nach den Ursachen der Grausamkeit nicht weiter.

 

Grausamkeit ist eine moralische Kategorie, die eine Tat aus Sicht des jeweiligen Opfers beschreibt.


Warum fügen manche Menschen anderen Schmerzen und Leid zu? Seit Beginn des Denkens beschäftigt diese Frage Gesellschaften, Religionen, Philosophen und wahrscheinlich stellt sich jeder Mensch in seinem Leben selbst einmal diese Frage. Bis heute gibt es keine eindeutige Antwort darauf und dieser Umstand weist eigentlich auch schon auf einen Teil des Problems hin: Grausamkeit ist eine moralische Kategorie, die eine Tat aus Sicht des jeweiligen Opfers beschreibt.
Jemand, der andere getötet oder gequält hat, sucht nicht nach Erklärungen dafür. Diese Frage stellen sich nur jene, denen dieses Leid zugefügt wurde. Die Täter selbst empfinden ihr Handeln nicht als böse, sondern haben für sich immer eine plausible Begründung für ihre Taten. Die Gründe reichen von ‚angemessener' Strafe, Revanche für selbst erlittenes Unrecht bis zur Rechtfertigung von Folter als Maßnahme zum behaupteten Erhalt der nationalen Sicherheit. Offenbar gilt in Anlehnung an das bekannte Zitat von Antoine de Saint-Exupéry: Nicht so sehr die Schönheit, sondern vielmehr das Böse liegt im Auge des Betrachters.

 

Nicht so sehr die Schönheit, sondern vielmehr das Böse liegt im Auge des Betrachters.


Roy F. Baumeister, Universitätsprofessor für Sozialpsychologie in Florida, wendet sich in seinem Buch ‚Evil: Inside Human Violence and Cruelty' gegen den Mythos vom reinen Bösen. In menschlichen Gesellschaften würden wir kulturelle oder ethnische Identität vor allem durch die Polarisierung ‚Wir gegen die' erreichen. Und als logische Folge davon liegt das Böse immer auf der Seite der anderen. Die eigenen Taten, auch wenn sie selbst noch so brutal sind, können auf diese Weise gerechtfertigt werden, indem man sich die Maske des Guten aufsetzt. Dieser Argumentation folgen bekanntermaßen Nationalsozialisten und andere Gewaltdiktaturen, die ihre Gräueltaten stets mit dem Wohl des Volkes rechtfertigen.
Baumeister analysiert historische Beispiele wie die Eroberungszüge der Wikinger oder die mongolischen Hunnenhorden und kommt dabei zum Schluss, dass grausames Verhalten erlernt werden kann. In agrarischen Gesellschaften ist das Töten von Tieren eine alltägliche Routine. Menschen leben in engem Kontakt mit ihren Haustieren, füttern, pflegen sie und lernen bereits als Kinder, dass man diese Lebewesen bei Bedarf tötet und verspeist. Dazu muss man zumindest zeitweilig in der Lage sein, sein Mitgefühl auszuschalten. Diese ausgeprägte Fähigkeit des Homo sapiens zur Empathie hat eine komplexe soziale Welt wie die unsere erst möglich gemacht. Bei anderen sozialen Lebewesen wie Ameisen, Honigbienen und Termiten gibt es zwar auch gemeinsame Brutpflege, Arbeitsteilung und das Zusammenleben mehrerer Generationen, aber diese Kooperation wird nur durch chemische Botenstoffe gesteuert. Plakativ formuliert: Diese Zusammenarbeit wird durch ‚Drogen' erzwungen. Menschen hingegen sind dazu fähig, Bewusstseinsvorgänge in anderen Personen nachzuvollziehen und diese bei sich selbst wiederzuerkennen. Wir können besser als jede andere Säugetierart Gefühle, Bedürfnisse, Ideen, Absichten und Meinungen anderer Lebewesen nachempfinden. Dies ist nach Meinung vieler Humanbiologen und auch Sozialwissenschaftler das zentrale Bindemittel unserer menschlichen Zivilisation.

 

Diese ausgeprägte Fähigkeit des Homo sapiens zur Empathie hat eine komplexe soziale Welt wie die unsere erst möglich gemacht.


Doch dieses mitfühlende, altruistische Verhalten kann in bestimmten Situationen durch grausame Handlungen ersetzt werden, bei denen wir uns dann fragen, wieso Menschen dazu fähig sind. Vier Gründe werden von Sozialpsychologen dafür angeführt:

  • Streben nach materiellem Gewinn, Bedrohung des eigenen Selbstwertgefühls, Idealismus und Sadismus.
  • Individueller Vorteil ist eine verbreitete Handlungsmaxime, nicht nur in der Wirtschaftswelt.
  • Täter haben im Gegensatz zur landläufigen Meinung oft ein hohes Selbstwertgefühl. Auf Kränkungen ihrer narzisstischen Persönlichkeit reagieren sie meist mit unproportionaler Gewalt.
  • Idealismus war in der Menschheitsgeschichte schon oft ein guter Grund, um für einen guten Zweck die angewandten Mittel zu rechtfertigen.
  • Sadismus gilt auch als ein erlerntes Verhalten. Unangenehme Emotionen kann man durch positive Gefühle kompensieren. So lernen manche, den Stress bei extremen Sportarten, wie zum Beispiel Fallschirmspringen, als Spaß zu empfinden.

Zu verstehen bedeutet aber nicht, zu verzeihen. Es ist wichtig, die Sichtweise von Tätern emotionslos zu betrachten, um die Ursachen ihres Handelns zu erforschen. Aber noch wichtiger ist es, die Sichtweise der Opfer nachzuvollziehen, um moralische Leitlinien für unsere Gesellschaft zu entwickeln.

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Dr. Peter Iwaniewicz

Dr. Peter Iwaniewicz

Peter Iwaniewicz ist Biologe, Journalist und Kulturökologe. Er unterrichtet an der Universität Wien Wissenschaftskommunikation und ist Autor zahlreicher Bücher.
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