Zen-Lehrer Brad Warner, über Ehrlichkeit, Sex und was Schuld, Scham und auch der Buddhismus damit zu tun haben.
Zen hat Ihr Leben verändert. Sie meinten einmal, dass Sie jede gute Sache, die in Ihrem Leben passiert ist, in gewisser Weise der Zen-Praxis zu verdanken haben. Inwiefern?
Ich begann ziemlich früh, Zen zu üben. Ich war 18 oder 19 Jahre alt, befand mich also an der Schwelle zum Erwachsenwerden und Zen hat wirklich meine Art, wie ich auf das Leben blicke, wie ich mit Dingen umgehe, geprägt. Nach meinem Studium an der Universität hatte ich einen Abschluss in Geschichte. Das Einzige, was du mit so einem Abschluss tun kannst, ist, dich als Lehrer zu bewerben. Und ich habe mich für sehr viele Lehrerjobs beworben, wurde aber immer abgelehnt. Das war in Ohio, im Mittleren Westen Amerikas. Da ich durch die ganzen Ablehnungen so frustriert war, habe ich mir schließlich einen Job als Englischlehrer in Japan gesucht. Das war für mich ein großer Schritt, den ich ohne die Zen-Praxis wahrscheinlich nicht gewagt hätte. Normalerweise bin ich nicht sehr risikofreudig. Aber ich hatte schon einige Jahre Zen geübt und dachte: „Okay, geh nach Japan. Vergiss das hier alles und lass es hinter dir.“ Und das hat wirklich eine ganze Menge verändert, diese Freiheit, Dinge einfach zu tun. Der Job, den ich dann später bekam, war der aufregendste, den ich je hatte. Ich arbeitete für eine japanische Firma, die Monsterfilme
produzierte. Ich denke nicht, dass ich mir ohne die Zen-Praxis zugetraut hätte, so einen Job zu übernehmen.
Es wird oft gesagt, Zen sei das Bemühen, absolut ehrlich zu sich selbst zu sein. Wie schaffen wir das?
Es ist schwierig. Ich denke, letztlich weißt du, wenn du unehrlich mit dir selbst bist. Aber es ist schwierig, denn es ist etwas, das du fühlst. Im Christentum sprechen sie über die leise, sanfte Stimme Gottes, obwohl du eigentlich vermutest, dass es eine gewaltige Stimme ist. Aber sie ist sehr sanft und sehr, sehr leise. Ich glaube, genauso ist es mit dem Anstoß zur Ehrlichkeit. Das ist die bedeutendste Stimme, die du hören kannst. Zu wissen, wie du sie findest, ist schwierig. Es gibt diese großartige Zeile von Dogen, dem japanischen Zen-Meister aus dem 13. Jahrhundert: „Wenn du auf den Boden fällst, stehst du mithilfe des Bodens wieder auf.“ Genauso machst du es. Das Fallen auf den Boden hat dir wehgetan, aber der Boden ist es, den du nutzt, um wieder aufzustehen. Das kannst du auf dein Leben übertragen. Wenn du den Fehler begehst, unehrlich mit dir selbst zu sein, nutzt du diesen Fehler, um zu lernen, ehrlicher zu sein.
In vielen japanisch geprägten Zen-Richtungen gibt es Richtlinien, nach denen versucht werden soll zu leben. Eine davon ist, Sex nicht zu missbrauchen. Was bedeutet das?
Das ist schwer. Von dieser Richtlinie habe ich ungefähr zu der Zeit erfahren, als ich meine Jungfräulichkeit verloren habe. Durch diese Idee, dass du Sex niemals missbrauchen darfst, wurde mein komplettes erwachsenes Sexleben ruiniert (lacht). Ich versuchte zu verstehen, was diese Richtlinie bedeutet.
Als Sie im College waren, hatten Sie eine Freundin, die der Ansicht war, dass Masturbieren eine Art Betrug ist.
Ja, all diese Ideen. Und ich dachte nur: „Wie soll ich das machen?“ Gerade wenn du 20 Jahre alt bist. Das Problem eines zwanzigjährigen Mannes ist, dass du nicht nicht masturbieren kannst (lacht). Wie auch immer, ich dachte jedenfalls viel darüber nach, was es bedeutet, Sexualität nicht zu missbrauchen. Ich glaube, letztendlich musst du das für dich selbst herausfinden. Das ist die Weisheit der buddhistischen Richtlinien in der heutigen Zeit. Der Ursprung dieser Regeln findet sich, als Buddha begann, zusammen mit anderen in einer Gruppe zu meditieren und mit ihnen zusammen zu üben. Sie mussten Regeln entwickeln, viele davon drehten sich sehr spezifisch um Sex. Diese Regeln waren Reaktionen auf Geschehnisse innerhalb der Gruppe. Die lustigste, die ich immer gerne erwähne, ist diese: „Es ist ein größeres Vergehen, mit einem Leguan Sex zu haben, als seinen Penis – das ist für Männer – in den Rüssel eines Elefanten zu stecken und zu versuchen, so mit dem Elefanten Sex zu haben.“ Beides ist völlig verrückt. Aber das kam durch die Geisteshaltung der Menschen, die versuchten, an alles zu denken, was unter Umständen passieren könnte, und dafür eine Regel zu entwickeln. Und nach Hunderten von Jahren, in denen Buddhisten versuchten, nach dieser riesigen Liste von verrückten Regeln zu leben, fragten sie sich: „Warum
sagen wir nicht, was die Basis dieser vielen Richtlinien ist?“ Und die Basis ist: „Missbrauche Sex nicht!“ Und ich denke, dies zeigt sich in der Situation, in der du Sex hast oder in der die Möglichkeit besteht, Sex zu haben. Du musst das ehrlich betrachten und dich fragen: „Ist es richtig, das zu tun?“ Manchmal ist es das und manchmal eben nicht. Aber niemand außerhalb der Situation kann das wissen. Nur die Leute, die sich in dieser Situation befinden, wissen, ob es richtig ist.
Es gibt viele, die nicht mal das Wort Sex aussprechen können, ohne sich dabei komisch zu fühlen. Woran liegt das?
Nun, in Amerika gibt es diese puritanische Moral. Aber in westlichen Kulturen ist Sex insgesamt zu einer sehr schwierigen Sache geworden. In Japan zu leben hat mir in gewisser Weise die Augen geöffnet. Heutzutage kann sich jeder im Internet japanische Pornografie anschauen. Mehr Leute als früher sind damit vertraut. Ich ging 1993 nach Japan. Zu dieser Zeit existierte das Internet schon, aber niemand hatte es. Ich war aber vor Ort plötzlich konfrontiert mit dieser Art von Zeug. Ich schaute mir das an und als jemand, der Sex mag und sich für menschliche Verhaltensweisen interessiert, fragte ich mich: „Wie kannst du so etwas machen? Wie kannst du Sex so offen und so krass präsentieren?“ Es ist eben eine ganz andere Sichtweise.
Sind Sie der Auffassung, dass in Japan die Idee der Sünde nicht existiert?
Das ist meine Theorie, ja. Ich habe nie gelesen, dass sich jemand anderer damit ernsthaft beschäftigt hat. Aber ich empfinde das wirklich so. Die Japaner haben nie diese Idee der Sünde mit Sex verbunden. Und das macht es für sie sehr einfach, offen zu sein für Dinge, denen wir uns im Westen nur ungern zuwenden. Und natürlich haben auch Japaner Probleme mit verschiedenen Sachen. Aber sie sind eben doch auf eine Weise sehr offen. Sie haben diese Haltung, dass manche Menschen eben bestimmte Dinge mögen, und das ist okay.
Im Westen dreht sich beim Thema Sex viel umScham und Schuld. Woran liegt das?
Die christlichen Ideen und deren Moralvorstellungen haben die amerikanische Kultur enorm geprägt. Ich bin sicher, es ist das Gleiche in der deutschen Kultur. Meine Familie besteht zu einem Großteil aus Deutschen. In der westlichen Kultur ist diese Repression sehr verbreitet. Vielleicht ist sie sogar älter als das Christentum. Und wer weiß, warum es so kam. Aber ja, Scham ist ein großer Teil von alldem, Schuld auch. Schuld ist eine interessante Sache. Sie hilft dir ein bisschen. Sie lässt dich schlecht fühlen, wenn du irgendetwas falsch gemacht hast. Aber du brauchst nur ein bisschen Schuld.
Meistens haben wir ein bisschen mehr davon ...
(lacht) Genau. Wir laden riesige Berge an Schuld auf uns. In Japan oder Europa herrschen auch andere Auffassungen über Nacktheit als in Amerika. Wir sind da sehr verklemmt. Als ich in Japan war und auch mal so ein Badehaus besucht habe, war es völlig normal, dass jeder seine Kleidung auszog. Früher badeten Männer und Frauen zusammen in diesen japanischen Badehäusern. Aber dann kamen die Amerikaner und ruinierten das für alle. Ich verüble das Amerika (lacht). Aber trotzdem, selbst mit ein paar Männern in so einem Badehaus ist es komisch. Jeder ist einfach nur nackt und alle nehmen zusammen ein Bad. Das fühlt sich merkwürdig an. Und dann fragst du dich, warum das so ist. Wieso ist das komisch? Du weißt ja, dass Menschen unter ihrer Kleidung nackt sind. Es gibt sicher evolutionäre, gesellschaftliche Gründe, warum wir unseren Körper bedecken.
Können wir solche kulturellen Einflüsse einfach außer Kraft setzten?
Es läuft darauf hinaus, dass wir diese Einflüsse erst einmal erkennen. Zuerst erkennst du und du begreifst, dass es so nicht sein muss. Ich denke, Kunst ist gut. Denn Kunst präsentiert gern die unbequeme Seite des Lebens. Sie konfrontiert dich damit. Wir entwickeln uns durch Kunst.
Kann Sex eine Praxis wie Zazen (Sitzmeditation) sein?
Er ist in jedem Fall schmutziger (lacht).
In buddhistischen Kontexten ist oft die Rede von achtsamen und mitfühlenden sexuellen Beziehungen.
Ja, ich denke, das ist möglich. Allerdings ist dafür auch ein gewisses Maß an Verpflichtung notwendig. Sehr klaren und ehrlichen Sex zu haben ist manchmal wirklich schwer. Aber ich stelle auch fest, dass das sehr interessant sein kann. Denn du entdeckst, dass du total offen sein kannst. Wenn du so offen sein kannst, dann gehst du auch in Bereiche, die für Leute, die so nicht mit Sex umgehen können, nicht zugänglich sind. Ich bin nicht Teil der Sadomasoszene, aber ich habe einige Freunde, die es sind. Bei dieser Art von Sex kann es zu Verletzungen kommen, wenn du nicht sehr, sehr offen mit allen Beteiligten bist. Sex kann fast alles sein. Es gibt natürlich ein paar Bereiche, die definitiv verschlossen bleiben müssen, wie zum Beispiel Sex mit Kindern, das ist klar. Aber außer diesen offensichtlichen Bereichen, die niemand zu betreten hat, ist da diese Fülle von Möglichkeiten, die du tun kannst. Und um in diesem riesigen, offenen Feld spielen zu können, müssen alle, die daran beteiligt sind, sehr ehrlich miteinander sein. Auf diese Weise kannst du eine Art buddhistische Herangehensweise zu Sex bekommen. Jeder muss absolut ehrlich sein.
Hat sich Ihre Herangehensweise an Sex über die Jahre hinweg verändert?
Ich vermute schon. Es war interessant, denn diese Art von Offenheit ermutigte mich, in Bereiche zu gehen, in denen ich vorher nicht gewesen bin. Um dann herauszufinden, dass ich in manche Bereiche besser nicht gehen sollte. Aber das gehört eben auch zum Ehrlichsein dazu.
Ja, ich denke, meine Herangehensweise an Sex hat sich verändert. Ich habe mich von dieser Idee verabschiedet, dass ich bestimmte Erfahrungen unbedingt machen muss. Ich denke, wir alle haben verschiedene Fantasien, und manchmal fühlt es sich dann so an, als müsse man diese in die Tat umsetzen. Ich kann mir das vorstellen, und der Umstand, dass das wahrscheinlich nicht passieren wird, stört mich nicht mehr. Denn ich brauche das nicht, um mir Selbstbestätigung zu geben. Ich hatte früher viele Sehnsüchte, derentwegen ich mich schlecht und schuldig gefühlt habe. Aber heute betrachte ich sie und denke mir: „Okay, ich habe dieses Verlangen. Ich brauche mich deswegen nicht schlecht zu fühlen.“ Es taucht in deinem Geist auf und dann verlässt es ihn auch wieder. Das ist in Ordnung.