Um keine falschen Erwartungen zu wecken: Yoga macht unseren Tag nicht unbedingt besser. Allerdings kann es dazu beitragen, dass wir den Tag bewusster erleben.
Yoga-Praxis beschränkt sich nicht auf die Matte und doch beginnt sie da – am besten am Morgen. Obwohl sich der Körper früh oft noch steif anfühlt und wir mit Müdigkeit kämpfen, ist es empfehlenswert, in der Früh zu üben. Der Morgen kreiert den Tag. Bevor wir hinaus in die Welt gehen, ist ein wenig Zeit mit uns selbst ein kostbares Geschenk. Wir hören uns zu, unseren Gedanken, fühlen unseren Körper, bevor wir mit anderen in Kontakt treten. Eventuell müssen wir dafür früher aufstehen. Das mag Überwindung kosten, wird uns und anderen aber schlussendlich zugutekommen.
Am Morgen bieten sich Körperhaltungen, sogenannte Asanas, an, die Körper und Geist beleben. Surya Namaskar, der Sonnengruß, stellt eine Abfolge von verschiedenen Yoga-Positionen dar, die sich gut eignet, um das Üben langsam zu beginnen. Anfangs kann es helfen, die jeweiligen Haltungen nur anzudeuten, damit Körper und Geist Zeit haben, sich auf die Praxis einzustellen. Langsame, bewusste Bewegungen sind wie ein leises, freundliches ‚Guten Morgen‘ an uns selbst. Stehhaltungen wie Trikonasana, das Dreieck, und die verschiedenen Virabhadrasanas, die Heldenhaltungen, können folgen. Auch Handbalancen, wie beispielsweise Vasisthasana, der Seitstütz, einfache Rückbeugen wie Salabhasana, die Heuschrecke, oder Vorwärtsbeugen eignen sich für das morgendliche Üben. Entsprechende Ausgleichshaltungen sollten sich anschließen.
Um die morgendliche Praxis ganzheitlich zu gestalten, empfehlen sich auch Pranayama, die Kontrolle des Atems, und Dhyana, die Meditation. Atemübungen müssen nicht notwendigerweise klassische Yoga-Techniken sein. Anfänger sollten damit beginnen, Kontakt zu ihrem Atem aufzunehmen. Den Atem im Körper an verschiedenen Stellen aufspüren, beobachten, ihn fühlen. Eine Übung, die man im Laufe des Tages immer wieder praktizieren kann. Wenn wir im Büro sitzen und das Telefon klingelt, können wir zwei, drei bewusste Atemzüge nehmen und dann erst den Hörer abnehmen. Kurz die Arbeit ruhen lassen und für einige Sekunden Körper und Atem spüren. Wenn kleine Rituale wie diese regelmäßig geübt werden, verändern sie uns auch im Umgang mit unserer Umwelt. Wir verlieren uns nicht so schnell im Durcheinander des Tages. Und wenn es doch geschieht, haben wir dank dieser die Gelegenheit, schneller wieder bei uns selbst anzukommen. Natürlich empfehlen sich insbesondere für Schreibtischarbeitende kurze Asana-Sequenzen für zwischendurch, einfache Stehhaltungen, Armkreisen, Dehnungen und leichte Bewegungen für den Nacken, um dem Körper Abwechslung von der monotonen Bürotätigkeit zu gönnen. Dazu braucht es nicht mal eine Yoga-Matte. Wichtig ist, dass wir uns an diese Möglichkeit erinnern. Immer und immer wieder. Das Erinnern ist Teil der Praxis, nur dann können wir sie auch in die Tat umsetzen.
Übt man Yoga über einen längeren Zeitraum, wird diese Praxis auch den Alltag erreichen.
Auch nachmittags oder am frühen Abend kann Yoga geübt werden. Falls sich morgens keine Möglichkeit bot, die Matte auszurollen, ist vielleicht jetzt die Zeit dafür gegeben. Das Üben zu dieser Tageszeit kann wie am Morgen ausgeführt oder klassischerweise regenerativer praktiziert werden. Verschiedene Sitzhaltungen vermögen uns nun zu erden und zur Ruhe zu bringen. Umkehrhaltungen, wie beispielsweise Sarvangasana, der Schulterstand, erfrischen Körper und Geist und können neue Perspektiven aufzeigen. Fühlt man sich nach getaner Arbeit besonders erschöpft oder sehnt man sich schlicht nach einer vollständigen Entspannung, kann Restorative Yoga die richtige Wahl sein. Es basiert auf einfachen Körperhaltungen, für die keinerlei Kraft aufgewendet wird. Hilfsmittel wie Kissen, Decken und Blöcke sorgen dafür, dass unser Körper in den Haltungen lange verweilen und vollständig entspannen kann. Nicht das Dehnen der Muskeln ist das Ziel. Restorative Yoga versteht sich als eine Praxis des Loslassens. Wir lassen los – im Körper wie im Geist. Auch wer sich vor dem Schlafengehen noch einmal sammeln, den Tag verabschieden möchte, kann dies mit entspannenden Asanas, wie zum Beispiel Balasana, der Stellung des Kindes, tun. Eine Gehmeditation bietet sich ebenso an.
Bei jeder Form der Yoga-Praxis ist es wichtig, die Bewegungen, den Atem und die Gedanken bewusst wahrzunehmen. Andernfalls ist Yoga schlicht Gymnastik mit zum Teil ziemlich merkwürdigen Haltungen. Gerade das macht die Schönheit dieses Übungsweges aus, dass wir auf der Matte die Chance haben, mit uns selbst einen freundschaftlichen Umgang zu entwickeln. Die Yoga-Lehrerin Vanda Scaravelli wusste, wie der Körper zum Freund werden kann: „Beobachtet ihn, hört ihm zu. Findet heraus, was er braucht, und habt Spaß dabei. Spüren heißt Lebendigsein.“ Anstatt einfach nur die immer gleichen Bewegungsabläufe statisch zu wiederholen, ist es gerade das Spüren des Körpers und des Atems, das Yoga so besonders macht. Wenn wir die Matte betreten, müssen wir keine perfekten Haltungen nachahmen. Unsere einzige Aufgabe ist es, in diesem Augenblick unseren Körper und Geist zu spüren, zu beobachten und zu erforschen. Auch um herauszufinden, welche Art von Praxis in diesem Moment angebracht ist. Eine fordernde, die uns eventuell an Grenzen bringt, oder eine sanfte, die uns die entsprechende Entspannung und Ruhe schenkt, die wir vielleicht in diesem Augenblick nötig haben. Nur so kann Yoga auf längere Sicht Freude bringen und uns die Gelegenheit bieten, uns selbst näher kennenzulernen. Dafür ist auch eine regelmäßige Praxis notwendig. Allerdings sollte man immer versuchen, realistisch einzuschätzen, wie viel Zeit man am Tag wirklich für das eigene Üben aufbringen kann. 20 Minuten jeden Tag sind besser als zwei Stunden einmal die Woche. Eventuell gönnt man sich am Wochenende eine Pause.
Nicht nur die Praxis an sich sollte an die eigenen Bedürfnisse angepasst werden, auch die Länge und der Zeitpunkt des Übens. Yoga sollte auf keinen Fall zu noch einem Punkt auf der To-do-Liste verkommen: „Noch schnell ein bisschen dehnen, damit es abgehakt werden kann.“ Mit Yoga hat das nichts zu tun, ebenso wenig mit Freude. Gelegentlich ist die Erschöpfung vielleicht auch so fortgeschritten, dass sich ein längeres Verweilen in Savasana, der Schlussentspannung, anbietet. Auch das kann Yoga-Praxis sein. Mit der Rückseite des Körpers auf der Matte liegend, die Handinnenseiten zur Decke gedreht, die Augen geschlossen, spüren wir Atemzug für Atemzug unseren müden Geist und Körper, ohne dass wir einschlafen. Savasana wird leider von Praktizierenden zu Hause oft vernachlässigt. Vielleicht auch, weil es in dieser Haltung vermeintlich nichts zu tun gibt und man die kurze Zeit, die man für die Yoga-Praxis hat, nicht mit Savasana ‚vergeuden‘ möchte. Dabei ist es ein wichtiges Asana. Am Ende der Übungseinheit gibt es uns Gelegenheit, die Praxis zu verdauen und vollends zu entspannen. Manche ängstigt die Ruhe und das Nichtstun, aber gerade dann scheint es eine wichtige Übung zu sein, die man erforschen kann.
Oft helfen ein sich langsames Herantasten an die Asanas und auch das Variieren dieser. Yoga sollte als ein Spiel, ein Ausprobieren der Haltungen verstanden werden, wofür Neugier und Offenheit notwendig sind. Und auch wenn es an Neugier fehlt, geschieht etwas mit den Übenden, allein dadurch, dass dieser Umstand wahrgenommen wird – am besten mit einem freundlichen Geist. Selbstverständlich hilft eine Yoga-Lehrerin dabei; das Üben unter erfahrener Anleitung ist Grundlage für die eigene Praxis zu Hause. Damit diese wohltuend ist und Freude bereitet, sollte man sich auch im eigenen Heim einen kleinen Ort für Yoga schaffen, der ruhig ist und so wenig Ablenkungen wie möglich bereithält. Es ist denkbar, vor der Übungseinheit einen kleinen Snack zu sich zu nehmen, um einer Unterzuckerung vorzubeugen. Generell sollte aber vor der Praxis möglichst nicht gegessen werden, da der Körper sonst mit Verdauen beschäftigt und träge ist.
Übt man Yoga über einen längeren Zeitraum, wird diese Praxis auch den Alltag erreichen. Sie wird unsere Wahrnehmung erweitern – und das nicht nur auf der Yoga-Matte. Die Vijnana-Yoga-Lehrerin Eva Oberndörfer beschreibt das Üben als eine Art Laboratorium, „in dem wir handeln und zugleich beobachten. In unserem Alltag können wir dann unsere Erfahrungen aus dem Laboratorium umsetzen. Wenn wir üben, üben wir zu leben, glücklicher zu leben.“ Trägt man diesen Gedanken mit auf die Yoga-Matte, kann der Zauber beginnen.
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Illustrationen ©Francesco Ciccolella