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Leben

Warum Menschen Ethik, Empathie und Mitgefühl entwickeln können und was das bringt. Der Mensch ist ein Tier. Ein besonderes zwar, aber immer noch ein Tier. 

Darwins Entdeckung, dass wir mit den Tieren verwandt sind, von ihnen abstammen und insofern immer noch Tiere sind, kann man in ihrer Auswirkung auf das menschliche Selbstverständnis kaum überschätzen. Die darwinsche Wende hat uns noch mehr erschüttert als die kopernikanische Wende, die uns aus dem Mittelpunkt des Universums verbannt und als Trabant der Sonne in eine periphere Rolle geschickt hat. Darwins Entdeckung hat uns zu einem Tier unter Tieren gemacht und damit zu einem Teil des Biotops, als dessen göttlich beauftragte Herrscher wir uns wähnten.

Das hat auch Auswirkung auf das, was wir unter Ethik verstehen. Haben Tiere einen freien Willen und sind als solche zum Gutsein verpflichtbar? Sind nicht auch wir Menschen den angeborenen Mustern unterworfen, welche die Evolution in uns per Mutation und Selektion ausgebildet hat? Zweifellos sind wir von Mustern gesteuert, die evolutionär entstanden sind. Als soziale Tiere aber können wir auch mit diesen Mustern Gutes tun. Nicht viel anders als Tiere, nur komplexer. Besonders in der Brutpflege und im Verhalten gegenüber Mitgliedern ihrer sozialen Gruppe können Tiere scheinbar sehr uneigennützig sein. Als Tier mit den komplexesten sozialen Strukturen und sogar einer Verbalsprache gilt das für uns Menschen in noch viel höherem Maße: Wir finden Befriedigung oder sogar Glück darin, anderen Menschen zu helfen.
„Edel sei der Mensch, hilfreich und gut“, forderte Goethe 1873 in einem Gedicht. Das würde uns von allen anderen Wesen unterscheiden, glaubte er. Und irrte sich darin, denn heute wissen wir dank Darwin und der modernen Verhaltensforschung mehr darüber. Gutes Verhalten wird jedoch auch für ein evolutionär gebildetes und entsprechend gesteuertes soziales Wesen belohnt. Wenn sich etwas für uns nicht lohnt, tun wir es nicht, darin sind wir nicht anders als Tiere. Dabei nicht zu vergessen: Auch ein ruhiges Gewissen lohnt sich, und die Freude, anderen Gutes zu tun, ist in der Regel viel nachhaltiger erfüllend als der Genuss des größeren Stücks eines begrenzten Kuchens, das wir uns auf egoistische Weise ergattert haben.

Der Mensch ist ein TierHier setzen die buddhistische Metta-Meditation und die tibetisch-buddhistische Tonglen-Praxis an. Beide Praktiken weiten den Kreis derjenigen aus, deren Beglückung uns selbst beglückt – sie weiten die Empathie aus. Dazu sind wir als evolutionär entstandene Wesen fähig. Was wir etwas unbeholfen Geist oder Herz nennen, befähigt uns dazu. Ich will das nun ein bisschen genauer erklären.

Der Mensch ist ein Tier

Als gerade geborene Babys haben wir noch kein klares Gefühl dafür, wo unser Körper endet. Alles ist irgendwie Welt, ein Kontinuum noch ohne Grenze zwischen Ich und Nicht-Ich. Erst allmählich entsteht das Gefühl: Dies ist mein Körper und jenes nicht. Es gibt Dinge außerhalb von mir. Einige davon können meinem Körper wehtun, andere ihm Lust verschaffen. Und dann sind da noch die Körper von anderen Wesen, die ebenfalls Schmerz und Lust empfinden. Im Lauf seiner Entwicklung dehnt sich die Empathie eines Kindes auf immer größere Kreise aus: auf Eltern und Geschwister, Nachbarn und Freunde, Mitglieder der eigenen Clique oder Schulklasse sowie auf Haustiere. Der ethische Bezug bleibt dabei jedoch ambivalent, denn diese Wesen können nicht nur beglücken, sondern auch Schmerz bereiten.
Uns Menschen fällt es schwer, unser Mitgefühl ohne Weiteres auf Kollektive einer Größe von weit mehr als 150 – die Dunbar-Zahl – auszudehnen, das lässt sich empirisch-statistisch belegen. Dies scheint die Größe eines typischen Steinzeitstamms zu sein. Auf Facebook können wir zwar bis zu 5.000 „Freunde“ haben, aber die können wir nicht mehr alle wirklich kennen.
Im Zuge der Bildung von Nationen sind jedoch mithilfe von Schulen und der Vereinheitlichung von Dialekten zu Nationalsprachen starke Nationalgefühle entstanden. Medien wie überregionale Zeitungen, Radio, TV und nun das Internet haben dabei geholfen. Heute sind wir jedoch durch die Masse der Nachrichten aus aller Welt von den dort leidenden Menschen überfordert. Wir können so viele nicht „in unser Herz“ aufnehmen. Die Folge sind Retrobewegungen wie der in vieler Hinsicht ökonomisch sinnvolle Lokalismus und der Bezug auf Heimat, die unsere Empathiefähigkeit weniger stark strapazieren.


Dieser Artikel erschien in der Ursache\Wirkung №. 113: „Grenzen überschreiten"

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Wie weit können wir Menschen fremder Kulturen und anderer Hautfarben noch als unseresgleichen empfinden? Können wir dabei auch empfindende Tiere einbeziehen, die nicht unsere Haustiere sind, süß aussehen oder streichelbar sind? Unser Fleischkonsum zeigt, dass die meisten von uns das Leiden nicht direkt sichtbarer Wesen problemlos verdrängen können. Andererseits können wir, in der vielleicht höchsten Stufe der Empathie, uns sogar als Teil des gesamten Biotops empfinden, wie Joanna Macy und andere Tiefenökologen es propagieren. Können wir nicht nur intellektuell wissen, dass wir das sind, sondern es auch fühlen?
Eine genaue Beobachtung dessen, was wir als Ich, unsereins, meinesgleichen oder mir/uns zugehörig empfinden, macht die Irrationalität eines engen Ich- oder Wir-Gefühls sichtbar. Unser geborener Körper ist ja zugleich ein sterbender, und auch während des Lebens fließt täglich Materie durch ihn hindurch. Wo fange ich an, und wo höre ich auf? Der Schmerz eines Kindes, das sich die Haut aufgeschürft hat, kann für uns schlimmer sein, als wenn es die eigene Haut wäre. Auch Fremdschämen ist Empathie, das peinliche Verhalten anderer kann für uns schwerer zu ertragen sein als die eigene Peinlichkeit.
Und auch mit Kindern, die nicht unsere Gene tragen, leiden wir mit. Und mit Tieren, sodass immer mehr Menschen in Europa auf den Verzehr von Fleisch verzichten, manche sogar auf tierische Produkte generell. Die Fleischindustrie tut derweil ihr Bestes, dass unser Mitgefühl für Tiere nicht so weit geht, die Entscheidungen unseres Nahrungsmitteleinkaufs zu beeinflussen.
Wir sind zwar evolutionär entstandene Tiere, aber als soziale Tiere haben wir enorme Fähigkeiten, unsere Empathie weit auszudehnen. In der mystischen Erfahrung der Grenzenlosigkeit können wir sie auf alle empfindenden Wesen ausdehnen, im Bewusstsein der ökologischen Zusammengehörigkeit sogar auf das ganze Biotop. Rund-um-die-Uhr-Mystiker sind wir Menschen jedoch nicht. Wir brauchen auch kleinere Gruppen, die wir in dieser Unendlichkeit priorisieren. Das ist nicht nur menschlich, es ist auch vernünftig. Wir sollten unsere Fähigkeit zur Empathie nicht überfordern.

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Wolf Schneider

Wolf Schneider

Wolf Sugata Schneider, ehemaliger Mönch in der buddhistischen TheravadaTradition, ist heute Autor und Humorist. www.connection.de www.bewusstseinserheiterung.info
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