Wie sich die taiwanische Nonne und Religionswissenschaftlerin Chao-Hwei für die Ehe für alle einsetzt.
Der 24. November 2016 ist ein typischer Herbsttag in Taipeh, der Hauptstadt des kleinen demokratischen Inselstaats Taiwan. Der Himmel ist wolkenverhangen, und Nieselregen fällt schon den ganzen Tag auf die Ströme von Motorrollern, die sich unentwegt durch die Straßen der Stadt schieben. Regen ist allerdings nichts Ungewöhnliches in einer Stadt, in der die Niederschlagsmenge eines einzigen Taifuntages die jährliche Niederschlagsmenge Hamburgs übersteigen kann.
Ungewöhnlicher hingegen sind die Ereignisse, die am Nachmittag dieses Tages in einer Anhörung des Legislativ Yuans, Taiwans Parlament, geschehen. An diesem Tag hat das Legislativ Yuan Experten und zivilgesellschaftliche Akteure eingeladen, um zu diskutieren, ob Taiwan als das erste Land Asiens die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare öffnen soll. Unter den Vortragenden befindet sich auch eine buddhistische Nonne, die Dharma-Lehrerin Shih Chao-Hwei. Chao-Hwei ist Professorin und Leiterin des Religionswissenschaftlichen Instituts der Hsuan-Chuang-Universität im Norden Taiwans. Außerdem leitet sie ein von ihr gegründetes Nonnen-Seminar für buddhistische Studien und hat unzählige Bücher und Artikel zum Buddhismus, aber auch zu vielen anderen Themen veröffentlicht.
Kurz bevor Chao-Hwei für ihren Redebeitrag ans Mikrofon tritt, sprach ein Vertreter einer Gruppierung, die sich Koalition zum Schutz der Familie nennt. Die Gruppe ist ein mit radikalen Evangelikalen in den USA vernetztes Bündnis, das seit Monaten einen aufwendig finanzierten medialen Feldzug gegen die Einführung der Ehe für alle in Taiwan führt. Obwohl Christen nur einen einstelligen Prozentbereich der taiwanischen Bevölkerung ausmachen, verfügen sie über überproportionalen Einfluss in der Gesellschaft. Diesen Einfluss machen einige von ihnen jetzt geltend, um die Liberalisierung der Ehegesetze in Taiwan zu verhindern. Eines der angeführten Argumente, das in diesem Zusammenhang von christlicher Seite an diesem Tag geäußert wird, ist, dass LBSTQIA+ Menschen nur eine kleine Minderheit seien. Sie sollten sich daher an die Mehrheit der Bevölkerung Taiwans anpassen.
Chao-Hwei beginnt ihren Beitrag schlagfertig mit der Entgegnung, dass es der Buddhismus und nicht das Christentum sei, der in Taiwan tief in der Mehrheitsgesellschaft verwurzelt ist, und es daher lohnenswert sei zu hören, wie sich das Thema aus buddhistischer Sicht darstellt. Chao-Hwei argumentiert, dass Begehren, buddhistisch gesehen, ein natürlicher Instinkt sei und somit weder als sündig noch als heilig angesehen werden kann. Es sei nur relevant, ob eine dritte Person geschädigt würde. Aus diesem Grund habe es im Buddhismus auch nie ein Sakrament der Ehe gegeben.
Die Buddhistin weist darauf hin, dass Homosexualität in Asien schon immer existiert habe und sich in den historischen Texten unzählige Verweise darauf finden lassen. Gleichgeschlechtliche Liebe als sündhaft oder schlecht zu verstehen, basiere auf westlichen Einflüssen und lasse sich nicht mit der Tradition chinesischsprachiger Gesellschaften begründen. Im Gegenteil, Vorwürfe wie jener, die gleichgeschlechtliche Ehe würde gegen ein traditionelles Verständnis von Familie verstoßen, übersehen, dass sich diese Werte längst verändert haben. Traditionell leben in Ostasien drei bis fünf Generationen unter einem Dach: Ein Mann hat mehrere Frauen, und in manchen Regionen gibt es auch Frauen mit mehreren Männern. Die Eltern zu verlassen und eine Kleinfamilie zu gründen, sei bereits ein Bruch mit der Tradition – unabhängig vom Geschlecht des Partners. Chao-Hwei fügt hinzu, dass Funktion und Bedeutung von Ehe und Familie extrem vielschichtig seien und sich nicht einfach auf die Vereinigung von Spermium und Eizelle reduzieren lassen.
Begehren ist, buddhistisch gesehen, ein natürlicher Instinkt. Es ist weder sündig noch heilig.
Die Nonne und Professorin beendet ihren siebenminütigen Redebeitrag mit einer Kritik an der verbreiteten Praxis von Gegnern der Ehe für alle, Bilder von spärlich bekleideten Teilnehmern der jährlichen Gay-Pride-Demonstrationen zu zeigen. Sie entgegnet, dass in Taiwan die Freiheit herrsche, selbst zu entscheiden, wie viel oder wenig Kleidung man trägt. Buddhistische Nonnen wie sie selbst, zögen es vor, sich zu bedecken, andere favorisieren es, mehr Haut zu zeigen. Im Alltag sehe man außerdem viel häufiger leicht gekleidete Heterosexuelle, und niemand würde deswegen auf die Idee kommen, die heterosexuelle Ehe abschaffen zu wollen, so die Nonne.
Die Rechte von LBSTQIA+ Menschen sind nicht das einzige Thema, für das sich die streitbare Buddhistin öffentlich einsetzt. Chao-Hwei ist bekannt für ihre TV-Auftritte und ihr akademisches und gesellschaftspolitisches Engagement. Sie hat ihre auf buddhistischer Ethik fußenden Überlegungen zu einer ganzen Reihe von gesellschaftspolitischen Fragen publiziert. Ihre Schriften behandeln Themen wie Tierrechte, die Diskriminierung von Nonnen im buddhistischen Orden, Euthanasie, die Todesstrafe, Glücksspiel, Umweltschutz und vieles mehr.
Ehe und Familie lassen sich nicht einfach auf die Vereinigung von Spermium und Eizelle reduzieren.
Chao-Hwei steht in der Tradition eines modern ausgerichteten Mahayana-Buddhismus. Sie ist Schülerin eines der wichtigsten Mönchsgelehrten in der Tradition des chinesischen Mahayanas des letzten Jahrhunderts, des Dharma-Lehrers Yinshun. Für Yinshun, wie schon für dessen Lehrer Taixu, einer zentralen Gründungsfigur des modernen Buddhismus in chinesischsprachigen Gesellschaften, macht gesellschaftliches Engagement einen wichtigen Teil der buddhistischen Praxis aus. In Europa ist diese sozial engagierte Interpretation der ostasiatischen Mahayana-Tradition vor allem durch Thích Nhất Hạnh bekannt geworden. In Taiwan hingegen ist sie, unter dem Namen „humanistischer Buddhismus“, tief im buddhistischen Mainstream verwurzelt und wird von einer ganzen Reihe von Gruppierungen, Tempeln und Personen praktiziert. Allerdings mit einem teilweise unterschiedlichen Verständnis davon, was genau den humanistischen Buddhismus ausmacht.
Der Buddhismus ist in Taiwan weitverbreitet und daher auch extrem vielfältig. Viele ursprünglich buddhistische Praktiken und Vorstellungen sind unter Nichtbuddhisten gang und gäbe. Neben dem intern hochgradig diversen chinesischen Mahayana sind auch alle anderen großen Traditionen auf der Insel vertreten. Wenig überraschend haben daher nicht alle Buddhisten die gleiche Meinung zur Ehe für alle. Während sich Chao-Hweis Rede im Internet rasend schnell unter progressiven Buddhisten verbreitet hat, gibt es auch einige Mönche, die sich in die Reihen der Evangelikalen gestellt haben. Die große Mehrheit der monastischen Organisationen aber hält sich zu dem Thema bedeckt.
Große Tempel in Taiwan, vor allem jene in der Tradition des humanistischen Buddhismus, engagieren sich in allen zentralen Gebieten der Gesellschaft. Sie leisten wertvolle Beiträge in den Bereichen Gesundheit, Wohlfahrt, Bildung und Kultur. Um den Buddhismus für den modernen Alltag der Menschen relevanter zu machen, führen manche von ihnen auch buddhistische Hochzeiten durch. Bis dato warten gleichgeschlechtliche Paare allerdings immer noch darauf, sich buddhistisch trauen lassen zu können. Obwohl Taiwan im Mai 2019 als erstes Land Asiens die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare geöffnet hat, hat bisher noch keine der großen buddhistischen Organisationen gleichgeschlechtliche Paare für buddhistische Hochzeiten zugelassen.
Dieser Artikel erschien in der Ursache\Wirkung Special №. 1: „Buddhismus unter dem Regenbogen"
Eine Ausnahme gibt es allerdings: Chao-Hwei führte bereits im Jahr 2012 die erste buddhistische Hochzeitszeremonie für ein lesbisches Paar durch. Schon damals argumentierte die buddhistische Nonne: „Eine Beziehung zu führen, ist schwierig genug, warum sollte man dann auch noch so kleinlich sein, einem heiratswilligen Paar die Ehe zu verwehren, abhängig von der sexuellen Orientierung?“ Im Februar dieses Jahres wurde Chao-Hwei für ihren Mut und ihre praktizierte Ethik mit dem renommierten Niwano-Friedenspreis für ihr Engagement ausgezeichnet.
Bild Teaser & Header © Pixabay