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Leben

Vieles wird für selbstverständlich gehalten, doch es ist wichtig, auch Alltägliches genauer zu untersuchen oder den Blickwinkel zu verändern.

Wenn Sie an einen Esstisch denken, sehen Sie vermutlich eine Platte aus Holz oder einem anderen Material vor sich, mit vier Beinen oder einem Gestell, ungefähr auf Hüfthöhe. Ein Gegenstand, der perfekt konstruiert ist für die Funktion, die er innehat. So perfekt, dass wir überhaupt nicht mehr darüber nachdenken.

Wie war das zum Beispiel als Kind? Da kam einem ein Esstisch so hoch wie ein Berg vor, sofern man schon eine Vorstellung von „Berg“ hatte. Nutzen konnte man ihn höchstens als Höhle oder Unterschlupf, vor allem, wenn eine Tischdecke darauf lag, die weit nach unten hing. Erst als wir größer wurden, erkannten wir, wie praktisch so ein Tisch ist, wie einfach es ist, Dinge darauf zu stellen oder sich an ihn zu setzen. Älter zu werden bedeutet eben auch immer, den tatsächlichen Sinn und Nutzen der Dinge um uns herum zu erkennen und mit der Zeit als selbstverständlich zu erachten. Was aber, wenn man älter, aber nicht größer wird?

Für mich als kleinwüchsige Frau hat ein Esstisch Brusthöhe. Ich komme meistens gerade so mit den Armen über die Kante. Aber da auch diese Arme sehr kurz sind, ist es für mich eher unpraktisch, etwas darauf zu stellen. Vom Sitzen auf normalen Stühlen gar nicht zu reden. Trotzdem bezeichne auch ich den beschriebenen Gegenstand als „Esstisch“ – weil ich gelernt habe, dass man ihn so nennt, aber auch, weil ich seine Funktion erkenne – selbst wenn ich ihn nicht ganz so selbstverständlich nutzen kann.

Menschen mit einer Behinderung stoßen in einer Welt, die größtenteils nicht für sie konstruiert wurde, immer wieder auf Hindernisse, eben auf Be-hinderungen. Das kann anstrengend und ärgerlich sein, doch mir ist irgendwann bewusst geworden, dass darin auch eine große Chance liegt: Durch den Umstand, dass ich oft besonders wach sein muss, um auf die Hindernisse des Alltags reagieren zu können, ist für mich vieles nicht so selbstverständlich. Das hilft mir, in anderen Lebenssituationen besser zurechtzukommen, wenn sich hier plötzlich etwas verändert.

Nichts entsteht aus sich heraus oder aus dem Nichts. Alles ist abhängig von bestimmten Ursachen, von seinen Bestandteilen oder von seiner Benennung.

Der Buddhismus spricht davon, dass alle konstruierten Dinge unbeständig sind. Konstruierte Dinge, das meint Gegenstände wie Tische, die irgendwann hergestellt werden, eine Weile bestehen und dann zerfallen oder wieder zerstört werden. Aber das meint auch Gedanken und Ideen – und natürlich unseren Körper. Viel Frustration entsteht im Leben dadurch, dass wir Unbeständiges für beständig halten – wir trauern einem Glücksmoment nach, werden wütend, wenn die Lieblingstasse kaputtgeht und haben furchtbare Angst davor, alt zu werden und zu sterben. Obwohl wir es eigentlich besser wissen, hoffen wir tief in uns, der Moment, die Tasse und unser Leben würden ewig bestehen, und es ist oft schmerzvoll, an die wahre, vergängliche Natur der Dinge erinnert zu werden.

verändern

Tatsächlich ist es auch viel einfacher, und für das Gehirn energiesparender, davon auszugehen, dass die Welt, die ich heute sehe, morgen noch genauso sein wird. Ist Ihnen zum Beispiel aufgefallen, wie sehr sich Busse in den vergangenen Jahren verändert haben? Noch während meines Studiums kam ich mir wie eine Bergsteigerin vor, wenn ich die Stufen am Einstieg erklimmen musste. Als Rollstuhlfahrer*in konnte man dieses Fortbewegungsmittel praktisch gar nicht benutzen. Einige dieser antiquierten Modelle fahren in unserer provinziellen Gegend immer noch herum, aber die meisten Busse sind inzwischen viel tiefer gebaut und besitzen eine ausfahrbare Rampe. Sogar die Bordsteine an den Bushaltestellen werden erhöht, sodass der Einstieg noch einfacher ist.

Neben der Unbeständigkeit ist das abhängige Entstehen, Sanskrit: „pratitya-samutpada“, Pali: „paticca-samuppada“, ein wichtiges Merkmal der buddhistischen Philosophie. Nichts entsteht aus sich heraus oder aus dem Nichts. Alles ist abhängig von bestimmten Ursachen, von seinen Bestandteilen oder von seiner Benennung. Busse würden heute vermutlich noch genauso konstruiert werden wie vor zwanzig Jahren, wenn es keine Menschen mit Behinderungen gäbe und wenn vor allem das Bewusstsein für die Bedürfnisse dieser Menschen in unserer Gesellschaft nicht allmählich gestiegen wäre. Und ist es nicht spannend, dass wir Busse, obwohl sie sich äußerlich sehr verändert haben, immer noch als solche wahrnehmen und auch noch so bezeichnen?

So fragte sich Chandrakirti, ein bedeutender buddhistischer Philosoph, bereits im 7. Jahrhundert in einem seiner Haupttexte mit dem Namen „Madhyamakavatara“, was einen Wagen ausmacht. Findet sich in den einzelnen Teilen, aus denen dieser Wagen besteht, etwas, das „Wagen“ genannt werden kann? Was, wenn Teile wegfielen – zum Beispiel die Räder –, ist es dann immer noch ein Wagen? Und wenn man alle Bestandteile auf einen Haufen legte, kann man das dann bereits als „Wagen“ bezeichnen?

Mich hat die Auseinandersetzung mit diesen Fragen immer sehr fasziniert, weil sie tatsächlich oft meine Alltagswahrnehmung spiegeln. Ist ein Fahrkartenautomat noch ein Fahrkartenautomat, wenn ich ihn nicht benutzen kann, weil das Bedienfeld zu hoch ist? Wenn ich von jedem Bein eines Esstischs vierzig Zentimeter absägen würde, wäre er für mich perfekt, aber würde die Allgemeinheit ihn dann noch als Esstisch bezeichnen?

Die buddhistische Philosophie will uns mit diesen Fragen in erster Linie dazu anleiten, weniger automatisiert auf diese Welt zu reagieren. Nicht so sehr an dem anzuhaften, was uns angenehm erscheint, oder das rigoros abzulehnen, was wir nicht haben wollen. Sich nicht der irrigen Hoffnung hinzugeben, dass irgendetwas ewig währen könnte. Zu akzeptieren, dass Veränderungen zu unserem Dasein gehören. Was ja auch gut so ist, denn sonst könnten wir gar nicht lernen, unseren Geist nicht trainieren, und sonst wären Busse mit unerklimmbaren Stufen immer noch Standard.

Ein erster Schritt dahin kann spielerisch erfolgen – niemand muss erst durch eine Behinderung oder einen anderen heftigen Einschnitt in das Leben aus seinem oder ihrem alltäglichen Trott gerissen werden. Man kann sich beim Essen zum Beispiel fragen, welche Umstände und Bedingungen zusammenkommen mussten, damit man jetzt diese Mahlzeit genießen kann. Oder man betrachtet einen Alltagsgegenstand und kontempliert darüber, wie er wohl in zehn, zwanzig oder hundert Jahren aussieht. Oder man geht spazieren und versucht, alles so zu betrachten, als würde man es zum ersten Mal sehen. Zum Beispiel mit den Augen einer Person, die im Rollstuhl sitzt oder kleinwüchsig ist. Wären die Dinge dann immer noch so selbstverständlich?


Dieser Artikel erschien in der Ursache\Wirkung №. 119: „Zukunft gestalten"'

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Katja Rübsaat studiert und praktiziert Buddhismus seit vielen Jahren. Sie ist Vorsitzende von Dharma Ocean Europe und lebt mit Hund und Katzen in der hohenlohischen Provinz. 

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Katja Rübsaat

Katja Rübsaat

Katja Rübsaat studiert und praktiziert Buddhismus seit vielen Jahren. Sie ist Vorsitzende von Dharma Ocean Europe und lebt mit Hund und Katzen in der hohenlohischen Provinz. www.dharmaocean-europe.org
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