Kürzlich las ich den Roman von Sigrid Nunez mit dem Titel „Was fehlt dir“. Sie schreibt, wie wir miteinander in Mut, Glück, Trauer, Trost und Zuversicht verbunden sind.
Das Buch hat mich inspiriert. Ich bin dem nachgegangen: „Ja, was fehlt eigentlich?“, dachte ich so für mich. Diese Frage wird derzeit häufiger gestellt. Aus der Psychologie hört man, in diesen schwierigen Zeiten sei der Einzelne zu wenig widerstandsfähig. Die Soziologie beklagt den fehlenden Zusammenhalt in der Gesellschaft. Der deutsche Philosoph Peter Sloterdijk stimmt dem zu; es fehle an Solidarität unter den verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen. So fordert er etwa die Religionen auf, von „Eifererkollektiven zu Parteien einer Zivilgesellschaft“ zu werden. Die Religionen wiederum wünschen sich mehr Mitgefühl, das fehle vor allem. Andere vermissen ein Bewusstsein für Nachhaltigkeit oder fragen sich kopfschüttelnd, warum es so vielen an gesundem Menschenverstand mangele.
Buchempfelung: Sigrid Nunez „Was fehlt dir“
Ich meine, was uns am meisten fehlt, ist Mut. Ich schlage das Wort nach: „Mut ist die Fähigkeit, in einer gefährlichen, riskanten Situation seine Angst zu überwinden“ sowie „die Bereitschaft, angesichts zu erwartender Nachteile etwas zu tun, was man für richtig hält“.
Es gibt verschiedene Formen von Mut, etwa den physischen Mut: etwas tun, was die Möglichkeit einschließt, sich körperlich zu verletzen, etwa auf einen Baum klettern oder eine mehr oder weniger risikoreiche Sportart betreiben. Diesen Mut meine ich nicht. Wichtiger ist der soziale Mut: Etwas tun, was bei anderen auf Ablehnung stoßen könnte, sich aber richtig anfühlt. Nahe verwandt ist der moralische Mut: für Dinge einstehen, auch wenn man befürchten muss, dadurch Nachteile zu erleiden.
Neben dem moralischen Mut gefallen mir der intellektuelle und der spirituelle Mut. Offen sein für die Ideen anderer. Der Mut, sich und seine Ansichten hinterfragen zu lassen und sich nicht scheuen, existenzielle Fragen zu stellen. Wer glaubt, der eigene Erfahrungshorizont bilde die Realität gut ab, irrt in der Regel. Deshalb ist es wichtig, dem anderen zuzuhören, seine Realität zu würdigen und für sich selbst zu erwägen.
Vor allem aber benötigen wir den Mut, Veränderungen zu akzeptieren. Mut, auszuhalten, dass wir nicht immer alles unter Kontrolle haben. Ja, den Mut, uns einzugestehen, dass wir tatsächlich so gut wie nichts unter Kontrolle haben. Viele persönliche und gesellschaftliche Probleme wurzeln in dem Versuch, Dinge festhalten zu wollen, die wir nicht festhalten können. Mehr Mut also!
Dieser Artikel erschien in der Ursache\Wirkung №. 121: „Mit allen Sinnen"
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