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Leben

Ausgrenzung aktiviert die Schmerzsysteme unseres Gehirns und begünstigt Gewalt. Was bedeutet dies für unser Leben?


Wie die meisten seiner Zeitgenossen, so hatte sich einst auch Sigmund Freud bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges im Jahre 1914 von Kriegsbegeisterung hinreißen lassen. Was im Jahre 1918 folgte, war eine verheerende Niederlage und ein Ende mit Schrecken. Erstmals war in diesem Krieg eine Massenvernichtungswaffe – Giftgas – eingesetzt worden. Beeindruckt vom Grauen dieses Krieges, in dem einer seiner Söhne verwundet worden war, versuchte Freud offenbar, sich das Geschehen zu erklären: Im Jahre 1920 formulierte er zum ersten Mal seine Hypothese eines Todestriebes, den er – einige Jahre später – auch als ‚Aggressionstrieb' bezeichnete und den er der von ihm erkannten Liebesenergie der Libido gegenüberstellte.

Viele Jahre später verschärfte Konrad Lorenz Freuds Theorie vom ‚Aggressionstrieb'. Tiefe, über ein bloßes Gruppenzugehörigkeitsgefühl hinausgehende zwischenmenschliche Bindungen, so führte Lorenz in seinem berühmt gewordenen Werk über ‚Das sogenannte Böse' explizit aus, könnten sich nur dort ergeben, wo zwei Partner ihre Aggression gegen ein gemeinsames Drittes ablenkten. Unter Nichtbeachtung bereits vorliegender Ergebnisse der Bindungsforschung erklärte Lorenz in ‚Das sogenannte Böse' die Bindung ausdrücklich zu einem Derivat der Aggression. Die Aggressionstheorien beider Männer standen in diametralem Gegensatz zu Charles Darwin. Darwin sah die menschliche Aggression als ein zwar biologisch fundiertes, aber reaktives Verhaltensprogramm, dessen Aktivierung entsprechende Stimuli zur Voraussetzung hat. Einen ‚Aggressionstrieb' sucht man bei Darwin vergebens.

Die moderne Neurobiologie gibt Charles Darwin recht. Was ist – aus heutiger Sicht – ein Trieb? Wie bei allen Lebewesen, so unterliegt auch das Verhalten des Menschen dem Lustprinzip. Menschen orientieren ihr Verhalten an dem legitimen Wunsch nach Wohlgefühl und nach der Vermeidung von Schmerz. Hirnzentren, die dafür sorgen können, dass Menschen sich wohlfühlen, wurden erst vor etwa 30 Jahren entdeckt: Es sind die im Mittelhirn sitzenden sogenannten Motivationssysteme (auch ‚Belohnungssysteme' oder ‚Glückssysteme' genannt). Sie – und nur sie! – sind in der Lage, jene Botenstoffe auszuschütten, die dem Menschen das Gefühl von Vitalität, Motivation und Lebensfreude schenken können. Aktivieren lassen sich diese Systeme durch lustvolle Bewegung, durch Musik, durch das Angebot von (insbesondere süßer) Nahrung, vor allem aber durch soziale Akzeptanz, durch zwischenmenschliche Zuwendung und Liebe. Einem anderen Menschen Leid oder Schmerzen zuzufügen, ohne zuvor provoziert worden zu sein, ist bei psychisch durchschnittlich gesunden Menschen – aus Sicht des Motivationssystems – nicht lohnend.UW76ST Sind wir von grund gewalt

Diese Erkenntnisse zur Funktionsweise der Motivationssysteme waren das Ende des ‚Aggressionstriebes'. Doch was ist damit gewonnen? Der ‚Aggressionstrieb' mag tot sein, doch ebenso offensichtlich ist, dass die zwischenmenschliche Aggression lebt. Ja, sie lebt heute, wie es scheint, mehr denn je! Doch gerade deshalb erschien – und erscheint – es mir wichtig, mit dem Mythos einer tief im Menschen sitzenden spontanen, unprovozierten Lust an Aggression und Gewalt aufzuräumen. Ebenso wie die – meines Erachtens unhaltbare – Theorie von den ‚egoistischen Genen' ist auch die Theorie vom ‚Aggressionstrieb' dabei, zu einer biologischen Legitimation des derzeit weltweit herrschenden ungebremsten kapitalistischen Systems zu werden. Dies war der Hintergrund, der mich veranlasste, die neurobiologischen Erkenntnisse zur menschlichen Aggression in meinem Buch ‚Schmerzgrenze' zusammenzufassen.

Zentral und bahnbrechend für das Verständnis vieler (nicht aller!) Aggressionsphänomene, die uns heute begegnen, spielt eine neurobiologische Beobachtung, die erst wenige Jahre alt ist, eine Rolle. Dass körperlicher Schmerz ein potenter, äußerst zuverlässiger Trigger für Aggression ist, ist eine alte Erkenntnis. Neu aber war folgende Beobachtung: Wesentliche Teile der neuronalen Schmerzmatrix des menschlichen Gehirns werden nicht nur dann aktiv, wenn körperlicher Schmerz zugefügt wird, sondern auch dann, wenn ein Mensch sozial ausgegrenzt oder gedemütigt wird. Damit wird zum ersten Mal verständlich, dass – und warum – Menschen auf Ausgrenzung und Demütigung mit erhöhter Aggressionsbereitschaft reagieren (falls die aggressive Energie nicht nach außen abgeleitet werden kann, kann sie sich nach innen richten und eine Depression hervorrufen). Das von mir formulierte ‚Gesetz der Schmerzgrenze' lautet: Nicht nur wer Menschen körperliche Schmerzen zufügt, auch wer andere sozial ausgrenzt und demütigt, tangiert die Schmerzgrenze und wird Gewalt ernten.

Doch gibt es nicht die ‚unbegründete' Aggression, wie sie uns an vielen Stellen des gesellschaftlichen Zusammenlebens – auf der Straße, in Schulen, am Arbeitsplatz oder in Familien – begegnet? Die scheinbar wie aus dem Nichts auftauchende Gewalt ist nur zu verstehen, wenn wir das überaus wichtige Phänomen der ‚Verschiebung' berücksichtigen. Aggression, die nicht dort ausgetragen werden kann, wo sie hervorgerufen wurde, wird in einem neurobiologischen ‚Aggressionsgedächtnis' gespeichert und äußert sich dann häufig in Situationen, die völlig losgelöst sind vom Kontext ihrer Entstehung. Verschobene Aggression, die sich z.B. gegenüber Schwächeren und/oder völlig unbeteiligten Dritten entlädt, erscheint wie unbegründet und erzeugt den Eindruck eines triebhaften Geschehens. Tatsächlich ist dieser Eindruck falsch, wie eine sorgfältige Analyse der Situation der jeweiligen Täter regelmäßig zeigt (was nicht bedeutet, die Täter freizusprechen und/oder ihre Taten zu rechtfertigen!).

 

Gestützt auf eine große Zahl neurobiologischer und psychologischer Studien formuliere ich die These, dass die Aggression ein evolutionär entstandenes Verhaltensprogramm ist, welches ursprünglich der Abwehr von Schmerz diente, dann aber von der Evolution zusätzlich in den Dienst des menschlichen Bedürfnisses nach sozialer Akzeptanz gestellt wurde. Neben sozialer Zurückweisung sind Verletzungen von Fairness und Gerechtigkeit experimentell erwiesene Trigger für Aggression. Der Zweck der Aggression wäre also nicht nur, eine Gefährdung der körperlichen Unversehrtheit, sondern auch eine Störung des sozialen Zusammenlebens, insbesondere die Gefahr sozialer Ausgrenzung anzuzeigen. – Bei Psychopathen hat die Aggression diese potenziell dienliche Funktion allerdings vollständig verloren. Neurobiologische Studien zeigen, dass sowohl die sogenannten ‚heißen' als auch die ‚kalten' (kann man das streichen?) Psychopathen keine Prototypen eines Urmenschen, sondern ausweislich massiver Veränderungen ihres neurobiologischen Aggressionsapparates (und das bitte auch?) als definitiv Kranke zu betrachten sind.

Entscheidend dafür, dass die Aggression – bei psychisch durchschnittlich gesunden Menschen – ein Instrument im Dienste guter sozialer Beziehungen sein kann, ist allerdings, dass sie in geeigneter Weise kommuniziert wird. Dies bedeutet: Sie muss verbal geäußert werden, sie muss ein Teil zwischenmenschlicher Kommunikation sein und ein möglichst gut integriertes Teilstück eines fortwährenden zwischenmenschlichen Dialogs bleiben. Wo die Kommunikation bzw. das Gespräch abbricht, besteht die Gefahr physischer – und damit destruktiver – Gewalt. Dort entwickeln sich dann rasch Aggressionsspiralen mit ihren allseits zerstörerischen Effekten. Aggression – im Sinne einer Antwort auf Ungerechtigkeit, Unfairness oder Ausgrenzung – als legitime Reaktion anzuerkennen und zuzulassen, zugleich aber zu lernen, sie in einer sozial akzeptablen Weise zu äußern, ist eines der zentralen Ziele guter Erziehung. (Bitte das unbedingt als Zitat nehmen.)UW76ST Sind wir von grund2

Neben den bereits genannten Aspekten hat das ‚Gesetz der Schmerzgrenze' auch eine politische Dimension. Krasse Armut im Angesicht von Reichtum zu erleben, bedeutet mehr als das Faktum der Not: Ausgeprägte Armut ist immer auch eine Ausgrenzungserfahrung, tangiert die Schmerzgrenze und begünstigt daher letztlich auch Gewalt. Das menschliche Gehirn verlangt – wie entsprechende Experimente zeigen – keine Gleichheit aller, es ist keineswegs ‚kommunistisch'. Jenseits einer durchaus vorhandenen Toleranzgrenze für Ungleichheit aktiviert die Erfahrung oder Beobachtung zwischenmenschlicher Unfairness jedoch verschiedene Teile des neurobiologischen Aggressionsapparates. Daraus ergibt sich nicht zuletzt auch eine prekäre globale Perspektive: Wir leben auf einem Globus der begrenzten Ressourcen. Dies lässt für die Zukunft verschärfte Verteilungskonflikte erwarten. Wenn sich die Schere zwischen Arm und Reich im Rahmen dieser Entwicklung weiter öffnet, ist mit global zunehmender Gewalt zu rechnen. Gerechtigkeit wäre demgegenüber die beste Gewaltprävention. (Das ist ein Zitat: Gerechtigkeit ist die beste Gewaltprävention.)

Abschließend stellt sich noch die Frage, welche Rolle menschliche Moralsysteme mit Blick auf Gewalt spielen. Ich vertrete die – durch Beobachtungen und Befunde gestützte – These, dass die sogenannte ‚neolithische Revolution' vor etwa 10.000 Jahren mit einer massiven Zunahme zwischenmenschlicher Gewalt verbunden war. Warum? Der damals einsetzende zivilisatorische Prozess ging mit der Entwicklung von Grundeigentum, von Erwerbsarbeit, sozialer Desintegration und mit einer dadurch beginnenden Entfremdung des Menschen von zahlreichen Grundbedürfnissen einher. Die Annahme liegt nahe, dass Streit um Eigentum, um die Bewertung erbrachter Arbeitsleistungen, Eifersucht und Neid ein drastisches Anwachsen von Aggressionstriggern mit sich brachten, denen unsere damaligen Vorfahren zunächst vermutlich recht schockiert und ratlos gegenüberstanden. Meine Vermutung ist, dass die just in dieser Menschheitsepoche erstmals aufkommenden Moralsysteme ein Reflex auf die im Verlauf des zivilisatorischen Prozesses massiv verstärkte zwischenmenschliche Aggression waren.UW76ST Sind wir von grund3

Doch Moralsysteme können, wie wir wissen, nicht nur eine segensreiche sowohl Gemeinschaft als auch Zusammenhalt und Gerechtigkeit stärkende Bedeutung haben. Vielmehr beinhalten Moralsysteme – Religionen eingeschlossen – die Gefahr, zu Elementen von Ingroup- versus Outgroup-Dynamiken zu werden und damit ihrerseits Aggression und Gewalt zu befördern. In der Fachliteratur gibt es auch den Begriff ‚Moral Licensing', der das Phänomen der Doppelmoral bzw. des Pharisäertums bezeichnet. Experimente zeigen: Wer die Möglichkeit hat, sich vor anderen moralisch besonders hervorzutun, handelt anschließend – sobald er oder sie sich unbeobachtet fühlt – tatsächlich regelhaft umso skrupelloser.

Zusammengefasst lautet meine Botschaft: Der Mensch ist alles andere als ‚gut'. Doch trotz seiner Unzulänglichkeiten weisen neurobiologische Beobachtungen – auch Experimente aus dem Bereich der sogenannten ‚Neuroethik' – den Menschen als ein Wesen mit moralischen Grundmotivationen aus. Soweit wir moralisch handeln, tun wir dies nicht nur deshalb, weil Moralsysteme uns dies ‚von außen' aufzwingen. Auch umgekehrt wird ein Schuh daraus: Moralsysteme existieren, weil der Mensch ein biologisch angelegtes, ‚triebhaftes' Urbedürfnis nach dem hat, was sie garantieren sollen: Gemeinschaft, Zusammenhalt, Fairness und Gerechtigkeit.

Univ.-Prof. Dr. Joachim Bauer, ist Arzt, Neurobiologe, Psychotherapeut, Professor am Uniklinikum Freiburg/Breisgau, ärztlicher Direktor der Hochgrat-Klinik für Psychosomatik im Allgäu sowie erfolgreicher Buchautor: " Das Gedächtnis des Körpers", "Prinzip der Menschlichkeit", "Warum ich fühle, was du fühlst"

Univ.-Prof. Dr. Joachim Bauer

Univ.-Prof. Dr. Joachim Bauer ist Neurobiologe, Arzt und Psychotherapeut. Er lehrt am Uniklinikum Freiburg, wo er als Oberarzt an der Abteilung Psychosomatische Medizin tätig ist. Bauer publizierte vielbeachtete Sachbücher.
Kommentare  
# Michael P. Ammel 2016-06-20 16:01
Freud kann bei diesem Thema, wie so oft keine Klarheit schaffen, seine Thesen sind weitgehend widerlegt. Die Verhaltensforschung ist da vielversprechender, aber wirklich hilfreich ist wohl eher die Evolutions - und Neurobiologie. Aggression ensteht durch Adaptation und Konditionierung (im Sinne von lebenserhaltend) und die koennten langfristig Gene beeinflussen. Der letzte Beweis fehlt hier. Ein Lichtblick ist die Plastizitaet unserer Gehirne, die uns bis in hohe Alter erlaubt und dies auch bei angeblich aggressiven Menschen, neue neuronale Muster zu entwickeln und zu verstaerken, die durch praktizierte Achtsamkeit, Empathie und Mitgefuehl entstehen. Von einer Ethik in diesem Sinne, sind wir noch etwas entfernt, aber man darf da nicht aufgeben.
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# Michael P. Ammel 2016-06-20 16:02
Hartmut Konz : Die Frage beschaeftigt sich nicht mit philosophischen Grundtugenden ueber die man gerne diskutieren mag. Tugenden erlernt der Mensch durch Konditionierung. Die Evolutionsbiologie hat ihn in erster Linie mit Eigenschaften ausgestattet, die ihm das Ueberleben ermoeglichen, dazu gehoert u.a. auch die Faehigkeit zum aggressiven Verhalten. Zwingen ihn seine (Ueber)Lebensumstaende, von dieser Gebrauch zu machen, dann tat und tut er es.
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# Ines Chalkley 2016-06-20 16:02
Is ja sehr interessant. :-)
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