Der Zen-Meister Gregory Snyder leitet seit vier Jahren in einer der ärmsten Gegenden New Yorks das ‚Awake Youth Project’, ein Meditationsprogramm für problembeladene Jugendliche.
Wie kam es zum ‚Awake Youth Project'?
Ich habe zuerst Achtsamkeitskurse an Colleges abgehalten, die Jugendlichen aus unterprivilegierten Nachbarschaften in Brooklyn helfen sollten, ihren Übertritt an Universitäten zu schaffen. Diese Jugendlichen kamen größtenteils aus Familien ohne Bildungshintergrund. Ich habe Workshops abgehalten, um ihnen zu zeigen, wie man Stress bewältigt.
Wie ist es zu dieser Kooperation gekommen?
Zuerst einmal hat ein College bei uns im Zen-Zentrum angerufen und gefragt, ob wir meinten, dass die Zen-Meditation den Schülern helfen könnte, mit ihren Problemen besser umzugehen. Wir haben ihnen daraufhin Meditationskurse angeboten, die von den Jugendlichen hervorragend angenommen wurden. Dieses Programm hat sich dann herumgesprochen. So hat die Arbeit mit der Non-Profit-Organisation ‚Brooklyn College Community Partnership' begonnen, die mit ungefähr 1.500 Kindern aus unterprivilegierten Nachbarschaften zusammenarbeitet. Die Kinder kommen aus fünf verschiedenen High-Schools, die alle unterfinanziert sind, in denen Gewalt auf der Tagesordnung steht und Polizeibeamte in den Schulgängen präsent sind. Aufgrund der enormen disziplinären Probleme baten sie um Hilfe.
Wie haben Sie das Programm gestaltet?
Wir haben erst vierwöchige Workshops für Schüler und Studenten auf freiwilliger Basis abgehalten. Mir wurde im Vorhinein gesagt, es sei schwierig, die Aufmerksamkeit dieser Kinder für nur 20 Minuten zu bekommen. Doch meine Erfahrung ist, dass sie für zweistündige Workshops bleiben und sich die gesamte Zeit über konzentrieren. Deshalb haben wir vor drei Jahren mit den wöchentlichen Meditationsgruppen angefangen. Zuerst nur mit fünf Schülern, die regelmäßig zu uns ins Zentrum kamen. Ihnen haben wir dann auch beigebracht, selbst Meditationen zu leiten, um noch mehr Schüler mit der Meditationspraxis zu erreichen. Heute bieten wir hier im Brooklyn Zen Center zweimal wöchentlich, dienstags und donnerstags, Meditationskurse für High-School-Schüler an.
Ist es nicht ungewöhnlich, dass sich offizielle Stellen an ein Zen-Zentrum wenden?
Wir arbeiten mittlerweile sogar mit dem New Yorker Bildungsministerium zusammen, nächste Woche halten wir einen Achtsamkeitskurs für Lehrer ab. Das war in der Tat nicht vorauszusehen, weil das New Yorker Bildungsamt eher konservativ ist. Allerdings ist Meditation mittlerweile relativ gut erforscht und das ist allgemein bekannt, daher wird sie angenommen. Außerdem ist die Verzweiflung über diese enormen Probleme in Brooklyns Schulen einfach zu groß. Es wird dringend nach Lösungen gesucht für diese unglaublichen disziplinären Schwierigkeiten. Daher sind viele Schulen offen, Neues zu versuchen. Was auch immer funktionieren könnte, wir tun, was wir können.
Was sind die Probleme der Jugendlichen in Ihrem Programm?
Die Probleme sind vielfältig: die schwierigen sozioökonomischen Umstände, in denen sie aufwachsen, und die Armut, in der sie leben. Die meisten kommen aus Familien ohne finanzielle Mittel, viele mit einem alleinerziehenden Elternteil, der oft mehrere Jobs hat und daher wenig Zeit, um für die Kinder zu sorgen. Viele Jugendliche, mit denen wir arbeiten, müssen auch noch ihre jüngeren Geschwister großziehen. Sie haben in ihrem jungen Leben schon enorm viel Stress und befinden sich in einem Umfeld, auch in der Schule, in dem sie sich nicht sicher fühlen, vor allem emotional. Ein Schüler hat zum Beispiel mehrere Brüder wegen Alkoholismus verloren und auch die Mutter ist alkoholkrank. Meiner Meinung nach sind das alles Auswirkungen von Armut. Wenn Sie mich fragen, was ihr größtes Problem ist: Sie haben kein Geld.
Wie stellen Sie Fortschritte durch Meditation und Achtsamkeit im Leben der Schüler fest?
Die wöchentlichen Meditationen funktionieren gut. Ich könnte Ihnen viele Geschichten erzählen von Jugendlichen, die begonnen haben zu praktizieren und danach ihr Verhalten änderten. Eine Schülerin, die zu der Zeit auf Bewährung war, kam einmal in die Meditationsgruppe. Die Woche darauf kam sie wieder und erzählte von einer Erfahrung: Sie wäre beinahe in eine Schlägerei geraten, aber dann hat sie getan, was sie in der Sitzung gelernt hatte. Sie ist in diesem Moment ruhig geblieben und hat sich auf ihren Atem konzentriert und sich bewusst gegen die Gewalt entschieden. Viele Mädchen kommen in unser Projekt mit dem Gedanken, das Höchste, was sie je beruflich erreichen könnten, wäre, als Krankenschwester zu arbeiten, denn das sagen ihnen ihre Eltern. Ein Mädchen, das an unserem Programm teilnahm, macht heute eine Ausbildung zur Psychotherapeutin, eine andere zur Ärztin und eine studiert Soziologie. Sie machen diese Entwicklung, weil sie gelernt haben, ihre eigene Geschichte zu hinterfragen.
Wie kommt es durch Meditation zu diesen Veränderungen?
Die Jugendlichen bekommen durch Meditation die Möglichkeit, emotionales Bewusstsein an einem sehr frühen Zeitpunkt im Leben zu entwickeln. Die Freiheit beginnt, wenn man von seinen Gedanken ablässt und sich auf den Atem konzentriert. Teenager sehen ihre Gedanken nicht als unbewussten Antreiber, aber wenn sie das lernen, dann verändert sich etwas an ihrem Verhalten. Eine Sache, die fast alle von ihnen als Erstes realisieren, ist, dass sie andauernd über andere urteilen, und das machen sie auch bei sich selbst. In unseren Gedanken ist so viel Kritik, dass es manchmal schwer ist, authentisch zu sein.
„Wie soll ich ruhig bleiben, wenn ich sehe, wie mein Stiefvater meine Mutter verprügelt?" Das sind echte Lebensfragen.
Wir alle kennen Widerstände in der Meditation. Sind diese bei den Teenagern stärker ausgeprägt?
Sie lachen eindeutig mehr und machen blöde Witze. Es ist schwer für sie, zur Ruhe zu kommen, wenn der Rücken schmerzt. Die meisten Widerstände sind jedoch dieselben wie bei Erwachsenen. Die Jungen haben aber oft weniger Durchhaltevermögen. Obwohl, ich kenne auch 16-Jährige, die drei- bis viertägige Retreats mitmachen und sie problemlos durchhalten. Danach erzählen manche, dass sie durch die Straßen gehen und das Gefühl haben, in einer anderen Stadt zu sein als zuvor. Ich denke, dass Meditation für Jugendliche eher weniger spirituellen Kontext hat, das kommt erst später. In der Jugend ist Spiritualität meist noch keine essenzielle Frage.
Was kann man mit dem ‚Awake Youth Project' erreichen?
Die Achtsamkeit wird zur Lebenseinstellung. Zwei Aspekte stehen bei dem ‚Awake Youth Project' im Fokus, wenn es um den achtsamen Umgang mit Emotionen geht: zu lernen, die Ruhe zu bewahren und nicht überzureagieren, egal, was um einen herum geschieht. Ein weiterer Aspekt ist, sich seiner Gedanken bewusst zu werden und folglich seines eigenen Verhaltens. Jemand sagt etwas zu dir, was schmerzvoll ist. Achte auf den Schmerz, achte auf deine mentale Reaktion. In diesem Moment reimt man sich eine innere Geschichte zusammen und rechtfertigt die eigene Reaktion. Wie bei einem Marathonläufer, der seinen Körper trainieren muss, um schneller zu werden, müssen die Teenager die physische Praxis, das Sitzen, durchhalten, um mit ihren Emotionen umgehen zu lernen.
Wie ist der praktische Ablauf des ‚Awake Youth Project'?
In den ersten sechs bis zehn Wochen lehre ich die Grundlagen der Meditation, danach involviere ich mich weniger. In einem Teil der Sitzungen darf über alles gesprochen werden. So lernen die Schüler, mit ihren Emotionen zu arbeiten, und werden sich bewusst, woher ihre Gedanken kommen. Wenn sie es schaffen, einen Schritt zurückzutreten und ihre Gedanken wie ein Objekt zu betrachten, haben sie ihr Ziel erreicht, denn das wird zu ihrer Lebenseinstellung.
Wie regelmäßig meditieren die Teenager?
Das ist unterschiedlich, von ein- bis dreimal wöchentlich. Ich ermutige sie allerdings, sich täglich mindestens fünf Minuten auf ihren Atem zu konzentrieren. Bei manchen funktioniert dies gut, bei anderen weniger. Es sind schließlich Teenager ...
Wie ist die Erstreaktion der Schüler auf Sie und das Programm?
Erst letzte Woche habe ich eine neue Schule dazubekommen, dort sind alle schon informierter darüber, was Meditation ist. Mehr, als es die meisten waren, als wir vor vier Jahren das Programm gestartet haben. Meditation gehört mittlerweile zur Populärkultur. Die Jungen können heute schon mehr mit dem Begriff anfangen. Das Programm ist auf freiwilliger Basis, diejenigen, die nichts mit Meditation zu tun haben wollen, die sehe ich sowieso nicht.
Gibt es auch negative Reaktionen?
Ich habe einmal einen jungen Mann kennengelernt, der richtig zornig auf die Meditation reagiert hat. Er war emotional nicht bereit und hat die Sitzung verlassen. Ein Jahr später kam er wieder und hat regelmäßig teilgenommen. Viele meiner Schüler kommen aus afroamerikanischen oder afrokaribischen ethnischen Hintergründen, aber auch aus weißen Arbeiterfamilien. In diesem Umfeld hier in New York gibt es große soziale Gewalt. Einmal sagte ein Schüler zu mir: „Wie soll ich ruhig bleiben, wenn ich sehe, wie mein Stiefvater meine Mutter verprügelt?" Das sind echte Lebensfragen.
Wie reagieren Sie auf eine solche Aussage?
Ich habe ihm gesagt, dass ich ihm nicht einfach raten könne, er solle sich nicht körperlich zwischen den Gewalttäter und sein Opfer stellen, aber, dass er sehr viel geschickter intervenieren könne, wenn er es nicht aus Ärger tut.
Wie geht es für die Teenager nach Beendigung des ‚Awake Youth Project' weiter? Integrieren sie später die Meditation auch in ihr Erwachsenenleben?
Sobald sie aufs College gehen, praktizieren sie im Normalfall weniger. Es ist natürlich ein zeitlicher Aufwand, soziale Kontakte sind ihnen wichtiger. Einer meiner ehemaligen Schüler erzählte mir, dass er vor allem dann wieder auf Meditation zurückgreift, wenn er unter Prüfungsstress steht. Meditation ist ihm nun als Möglichkeit gegeben.
Was wünschen Sie sich für die Zukunft?
Ich wünsche mir, dass die Jungen die Gewohnheit entwickeln, sich von ihren Denkmustern und ihrem Leid zu befreien. Das braucht Zeit, bei manchen geht es schneller, bei manchen dauert es Jahre. Momentan arbeiten wir an der Kooperation mit lokalen Restaurants, Zen hat eine starke Verbundenheit mit bewusstem Kochen und Essen. Wir arbeiten daran, dass die Jugendlichen nach ihrer Zen-Praxis in Restaurants als Köche arbeiten können.
Und die Welt macht einen Schritt nach vorn…