Sie müssen schon im zarten Jugendalter wissen, was sie werden wollen, an ihren Karrieren schmieden, die richtigen Kontakte pflegen und sich selbst zur Kultfigur stilisieren. Die Anforderungen an die Heranwachsenden von heute sind wirklich hart.
Nico ist gerade einmal 18 Jahre alt und besucht eine Hotelmanagementschule. Ein hübscher, junger Mann mit schönen Haaren und gepflegt, ein Kind aus gutem Stall. Von Kopf bis Fuß trägt er Designermode: Gucci Loafers, Dsquared Jeans und ein todschickes T-Shirt derselben Marke, die Kult ist unter Jugendlichen und extrem viel Geld kostet. Teure Kleider sind für junge Menschen ungemein wichtig, denn die Alltagskultur der Jugendlichen scheint – wenn man soziologischen Studien traut – vom Zauber der Oberfläche beherrscht zu sein, damit der junge Mann/das junge Mädchen aus sich selbst etwas Besonderes, etwas Einzigartiges inszenieren kann. Bereits in der großen Shell Studie 2006 wurde von 90 Prozent der deutschen Jugendlichen das Anliegen ‚toll aussehen’ an die erste Stelle der Dinge gesetzt, die gegenwärtig angesagt sind. Nicos Eltern sind geschieden, klar, wie fast alle Eltern heutzutage, so scheint’s. Die Mutter macht in Immobilien und verdient gutes Geld trotz Finanzkrise, wodurch sie dem ‚charming boy’ die Wünsche erfüllen kann. Und dafür ist der auch dankbar, denn Mama ist sein großes Idol. Er trägt auch das Freundschaftsarmband, das sie ihm aus Italien mitgebracht hat. ‚Jung sein in einer materialistischen Konkurrenzgesellschaft’ heißt ein Thema, bei dem Jugendforscher Bernhard Heinzlmaier zu ähnlichen Ergebnissen kommt: Das Leben in den Familien läuft heute weitaus konfliktärmer und harmonischer ab als noch vor 20 oder 30 Jahren, vor allem in den Mittelschichtfamilien. Untersuchungen zeigen, dass die Eltern heute weitaus mehr Verständnis für Lebensweise und Lebenskultur ihrer Kinder aufbringen. Außerdem verfügen diese Familien über größeren Wohnraum als früher – sicherlich ein wesentlicher Grund dafür, warum die elterliche Wohnung erst im durchschnittlichen Alter von 26 Jahren verlassen wird. So tüchtig wie die Mama möchte Nico auch einmal werden. Hotelmanager oder gar Hotelbesitzer ist sein berufliches Ziel und dafür ist er bereit, richtig was zu leisten, sogar die lästige Schule abzuschließen, denn er weiß, dass ohne entsprechende Ausbildung eine Karriere heutzutage fast unmöglich ist.
„Wer heute mit 16 Jahren noch nicht weiß, was er beruflich möchte, wer er ist und wen oder was er darstellen möchte, wird nie den gesellschaftlichen Ansprüchen gerecht werden und den Sprung auf der sozialen Leiter nach oben schaffen“, meint auch Jugendforscher Heinzlmaier und fügt hinzu, dass dies natürlich eine überspitzte Formulierung sei, die aber im Prinzip stimmt. Ein bisschen viel, was den jungen Leuten da abverlangt wird, und überhaupt nur möglich, wenn sie nicht nur von der eigenen Familie, sondern auch von anspruchsvollen Privatschulen beim Schmieden ihrer Karriere unterstützt werden. Nicos Hände zittern, während er hektisch eine Zigarette raucht. Er hat eine Schilddrüsenüberfunktion, die durch ein traumatisches Schulstresserlebnis ausgelöst wurde, als er an einem einzigen Tag gleich mehrere Entscheidungsprüfungen absolvieren musste, um nicht von der Schule zu fliegen. Und eines hat Nico begriffen: Ohne einen erfolgreichen Schul- oder Studienabschluss wird sein Berufswunsch, Hotelmanager zu werden, wie eine Seifenblase zerplatzen. Nicht alle Kinder mittelständischer Familien sind jedoch begabt, fleißig und vor allem angepasst genug, um den ehrgeizigen Plänen ihrer Eltern entsprechen zu können. Sie erleben erste Ego-Einbrüche durch das Scheitern an den Anforderungen der leistungsorientierten Schulen. Doch mit dem nötigen Kleingeld ist auch bei diesem Problem Hilfe nicht weit. Teure Privatschulen, die gezielt auf die Bedürfnisse der lernschwachen Wohlstandskinder eingehen, gibt es in der Zwischenzeit genug. So bietet Renate Chorherr, Direktorin der Wiener Privatschule W@lz, spezielle Hilfe in schwierigen Situationen an: „Ich habe gesehen, dass es im öffentlichen Schulsystem für manche Jugendliche in ihrer Potenzial- und Persönlichkeitsentwicklung eigentlich keine Unterstützung oder Betreuung gibt.“ Die W@lz setzt genau an diesem Schwerpunkt an, meint die studierte Gymnasialprofessorin: „Wir helfen den Jugendlichen, ihren Lebensfaden zu finden, ihre Stärken und Schwächen herauszufinden und das Bewusstsein für die eigene Persönlichkeit zu entwickeln.“ MentorInnen begleiten die SchülerInnen durch die Woche, coachen die aufgeregten Kinder vor den Prüfungen und überlegen, wobei sie das lernwillige Jungvolk unterstützen können. Es wird Theater gespielt, statt Sport gibt es Akrobatikstunden, die Kreativität der Heranwachsenden wird in jeder erdenklichen Weise gefördert und vor allem wird, was durch das altmodische Wort ‚Walz’ bereits im Namen der Schule zum Ausdruck kommt, der Lehrinhalt reisend erlebt. Biologie zum Beispiel wird an den Biotopen der Heimat erfahrend gelehrt, samt dazugehörigen mehrwöchigen Aufenthalten auf Bauernhöfen. Nico wird es nach oben schaffen. Seine Familie kann es sich leisten, den smarten Youngster zu ‚supporten’. Nicht nur Mama und Papa, sondern auch Oma und die Schwester lieben ihn und er hat Freunde. Gute Freunde. Mit denen kann er sich austauschen und Spaß haben. Und wenn er einmal ausspannen möchte, spielt er Online-Poker. Da wird er ganz ruhig und gewinnt, überwiegend zumindest. In den letzten drei Jahren waren es immerhin 6000 Euro, die ihm dieser Zeitvertreib einbrachte. Er weiß, was er will, und falls die Gesundheit einmal nicht mitspielt, gibt es für ihn die beste medizinische Versorgung. Nico möchte ein wertvolles Mitglied einer tüchtigen Zukunftsgesellschaft werden und hofft politisch auf gerechtere Zustände. Die ÖVP findet er nicht schlecht, aber eine rechte Partei wie die FPÖ unter H.C. Strache könnte für mehr soziale Gerechtigkeit sorgen und ‚die Schmarotzer’ des Sozialsystems in Schach halten. Die rechtspopulistische Freiheitliche Partei ist immerhin die einzige, die in seinen Augen ehrlich ist und der er das zutraut.
„Es gibt einen kleinen elitären Teil, der seine Chancen nützen und auf die schnellen Veränderungen der Zeit gut reagieren kann“, meint Jugendforscher Heinzlmaier. Der dafür benötigte ‚Möglichkeitsraum’ stünde aber bei Weitem nicht allen Jugendlichen zur Verfügung und die gesellschaftliche Durchlässigkeit zwischen den sozialen Schichten sei längst nicht mehr gegeben. Jugendliche aus unteren und sozial schwachen Milieus wüssten dies auch. Eine Chance nach oben hätte nicht jeder. „Vom Tellerwäscher zum Millionär, dieses Phänomen ist vollständig ausgestorben, die Milieugrenzen sind dicht“, zeichnet Heinzlmaier, der auch Leiter der tfactory-Trendagentur in Hamburg ist, ein düsteres Gegenwartsbild. „In Deutschland gibt es ‚Hartz 4’ Familien, die als Sozialhilfeempfänger leben und auch ganz genau wissen, dass sie dort nie herauskommen werden.“ Heinzlmaier bezieht sich auf die Erkenntnisse des amerikanischen Ökonomen Milton Friedman, der schon vor Jahren festgestellt hat: „In einer postmodernen Gesellschaft leben einfach rund 20 Prozent der Bevölkerung vom Sozialstaat, sie werden alimentiert, somit ruhig gestellt, um den sozialen Frieden zu gewährleisten.“ In Österreich scheinen die Uhren Gott sei Dank langsamer zu gehen, denn der Wiener ÖVP-Bezirksrat und Besitzer der Sieveringer Bäckerei Wannemacher, Gregor Lautner, ist Lehrlingsausbildner und macht dabei auch positive Erfahrungen: „Einige Lehrlinge sind motiviert und lernbereit, andere resignieren nach einiger Zeit und wollen einfach nichts mehr aufnehmen. Doch manche wollen eine Lehre machen, um in unserer Gesellschaft etwas zu leisten.“ Lautner, dem die Arbeit mit den jungen Leuten Freude macht, ist aber auch angestrengt, weil er ein großes Stück Erziehungsarbeit leisten muss, das von den Eltern vernachlässigt wird: „Insgesamt wird das Niveau immer niedriger, denn viele Jugendliche denken: Leistung ist sekundär, Nehmen ist primär!“
Nico liest keine Bücher. Wenn ein Roman interessant erscheint, wartet er, bis der Stoff verfilmt wird und in die Kinos kommt. Auch für Tageszeitungen hat er kein Faible, denn die veröffentlichten Artikel seien ohnehin meist nicht objektiv recherchiert, sondern spiegelten nur die Meinung der jeweiligen dahinterstehenden Interessensgruppen wider. Er vertraut weder den TV-Nachrichten noch den Meldungen der Radiostationen. Wenn er sich wirklich informieren möchte, tut er das im Internet. Dort erwartet er sich am ehesten die ungeschminkte Wahrheit. Er ist ein Fan des Online-Netzwerkes Facebook. Dort ist er in Kontakt mit über 900 sogenannten ‚Friends’, mit denen er regen Austausch pflegt. „Ich neige dazu, den Internetraum mit einem Sozialraum zu vergleichen, der viele Möglichkeiten mit leichter Zugängigkeit bietet“, meint der Experte für Internet- und Onlinesucht Bernd Dillinger. Die Gefahr sieht er nur darin, dass die User auch mit Inhalten konfrontiert werden, die moralisch fragwürdig sind wie pornografische und rechtsextreme Seiten. Wie wichtig die Onlineplattformen für die Jugend sind, weiß auch Trendforscher Heinzlmaier: „Wir leben eindeutig in einer Gesellschaft von ‚sensation seekers’, in der die Jungen auf der ewigen Suche nach tollen Erlebnissen sind, die sie dann auf Online-Netzwerken wie studiVZ oder Facebook präsentieren.“ Die Angehörigen der Mittelschicht haben also die Möglichkeit, durch Konsum scheinbar auf ihre Kosten zu kommen. Die anderen, denen das nötige Kleingeld fehlt, seien von einem solchen Leben ausgeschlossen und würden im Extremfall ihre Erlebniswelten schon einmal in Schlägereien oder bei Einbrüchen finden. „Junge Männer ohne Geld und Job sitzen nicht im Kaffeehaus und lesen Canettis ‚Masse und Macht’“, meint Heinzlmaier und vergisst dabei zu erwähnen, dass auch die meisten jungen Männer und Frauen mit Job und Geld Canettis großartiges Werk nicht lesen.
Das Bild, das sich zusammenfügt, zeigt junge Menschen, egal, ob reich oder arm, gebildet oder ungebildet, die von einem sinnerfüllten Leben weit entfernt zu sein scheinen. Ihre Welt, ihre Ziele sind funktional bestimmt, ohne dass sie nach der Fülle des Daseins greifen – in völliger Unkenntnis der Gesamtmöglichkeiten einer entwickelten Persönlichkeit. Nico könnte ebenso gut anders heißen oder auch ein Mädchen sein. Er steht symbolhaft für eine Generation von der vor allem erwartet wird, dass sie in der Konsumwelt problemlos funktioniert. Bevor Nico zu Bett geht, macht er noch rasch sein letztes ‚Status Update’ auf dem Facebook-Profil: 23:20 Uhr: „Nico haut sich jetzt endlich aufs Ohr und zählt seine Hasen.“
Christina Klebl, 1979, ist ehemalige Chefredakteurin von Ursache\Wirkung. Sie hat Psychologie an der Universität Wien studiert, leitet das Seminarzentrum im Mandalahof und ist Geschäftsführerin des Radiologieinstitut Bellaria.
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