Unterschiedliche Meditationsformen haben unterschiedliche energetische Auswirkungen. Mit Zen verbinden viele Menschen Gelassenheit. Diese Gelassenheit rührt von der starken energetischen Erdung her, die für Zen charakteristisch ist.
„Wenn ich eine schwierige Verhandlung habe, setze ich mich in mein Zen-Zimmer im Büro und meditiere. Meine Sekretärin weiß, dass nichts und niemand mich stören darf. Sie geleitet die Verhandlungsteilnehmer in das Besprechungszimmer und serviert ihnen Kaffee. Dann komme ich direkt aus der Meditation in den Verhandlungsraum, spreche einige Begrüßungsworte und warte ab. Statt sofort in die Führungsrolle zu gehen, nehme ich wahr, was gerade in diesem Raum ist. Ich erspüre mit dem Hara, wann die Zeit ist, das Wort zu ergreifen. Und dann, zum richtigen Zeitpunkt, gehe ich mit aller Kraft hinein und dann kommen die richtigen Worte.“
Das erzählte mir ein Freund, ein erfolgreicher Unternehmensberater aus Norddeutschland. Er ist Pragmatiker und verbindet die Zen-Meditation mit seinem Berufsalltag. Zen-Adepten können wohl darüber diskutieren, ob es ‚zulässig’ ist oder nicht, die Zen-Praxis zu funktionalisieren. Hier interessiert jedoch, was mit ‚Hara’ gemeint ist.
Zentrierung im Hara
Zum ersten Mal hörte ich das Wort ‚Hara’ vor 40 Jahren von meinem Karatelehrer Ichikawa Hanshi, 10. Dan. Er erklärte mir, wie ich möglichst mit dem Schwerpunkt des Körpers, dem Hara, stehen sollte, das heißt, die Knie leicht gebeugt und gegrätscht, um einen sicheren Stand zu haben. Alle mussten in dieser Haltung die Augen schließen. Der Karatelehrer ging durch die Reihen und stieß mit aller Wucht immer wieder einen der Schüler um, eine von allen gefürchtete Übung. Während ich so dastand, wusste ich nie, wo er war, und so musste ich mich darauf konzentrieren, möglichst geerdet und sicher auf den Beinen zu stehen. Im Prinzip ist es das Gleiche wie bei den Stehaufmännchen. Diese haben im unteren Teil eine Metallkugel, die sie immer wieder aufstehen lässt. Wenn das Gewicht im Kopf wäre, würden sie liegen bleiben. Ist das Gewicht im Bauch, im Hara, stehen sie wieder auf. Daraus habe ich gelernt: Wenn ich mich auf mein Hara und die Kraft in meinen Beinen konzentriere, verleiht mir das Stabilität. Die Aufmerksamkeit im Hara zu halten, das wurde mir damals schon klar, bedeutet, sowohl mit dem Geist und als auch mit dem Körper zentriert zu sein.
Viele Jahre später lernte ich einen Shiatsu-Lehrer kennen, Tomas Nelissen, den Leiter der Hara-Shiatsu-Schule in Wien. Und wieder war der ‚Hara’ der Ausgangspunkt und Mittelpunkt aller Praxis im Shiatsu. Während in der westlichen Massage große Kraft beim Behandeln des Körpers angewendet wird, lernt eine Shiatsu-Praktikerin, die Griffe und Haltungen immer aus der Mitte des Körpers zu vollziehen. Man setzt den Schwerpunkt des Körpers ein und braucht dadurch fast keine Muskelkraft. Das deckte sich mit der Erfahrung im Karate, alle Bewegungen aus der Mitte, aus der Gegend unterhalb des Nabels zu vollziehen.
Ebenso ist es in der Zen-Praxis. Wenn ich in den Zen-Übungsraum hineingehe, bleibe ich kurz vor dem Eingang stehen und sammle mich. Meine Aufmerksamkeit liegt im Hara. Ich trete ein – mit dem Schwerpunkt im Hara, ich verbeuge mich. In dieser Erdung gehe ich die Sitzmatten entlang, verbeuge mich im Stehen und setze mich. Auf dem Kissen sitze ich wie ein Berg. Der Kopf ist die Spitze, die Unterschenkel liegen in ihrer ganzen Breite auf. Die ganze Haltung ist geerdet. Genauso ist es bei allen anderen Handlungen. Bin ich Rezitationsleiterin (Ino), dann sitze ich gerade, mit dem Schwerpunkt im Bauch. Ich schlage den Gong an. Der Gong klingt völlig anders, wenn meine Aufmerksamkeit herumflattert oder im Bauchraum konzentriert ist.
Erdung oder Kopflastigkeit?
Einer meiner späteren Zen-Lehrer machte den energetischen Aspekt des Körpers mit zwei Dreiecken deutlich: eines, das auf der Spitze steht, und eines, bei dem die Spitze oben ist. Stellen wir uns nun vor, dass alles, was wir tun, eine gewisse Energie erzeugt. Und stellen wir uns weiters vor, dass wir diese Energie sichtbar machen könnten, zum Beispiel in Form von kleinen Farbpartikeln. Wenn wir etwa ein Buch lesen, wäre die Energie rund um unseren Kopf sichtbar. Kleine Kinder hätten andererseits einen ziemlich ausgewogenen Energiehaushalt – zumindest, solange sie spielen, herumtollen, Rad fahren oder Ähnliches. Kaum kommen sie jedoch in die Schule, müssen sie still sitzen, lesen, schreiben und rechnen. Auf unserem imaginären Bild verdichtet sich dann die Energie – je älter sie werden – nach und nach immer mehr im Kopf. Die Arbeit am Computer – kopflastig. Konzepte und Planungen erstellen – kopflastig. Hätte die Energie ein Gewicht, würden wir vor lauter Kopflastigkeit umfallen. Und dann trinken wir häufig noch eine Tasse Kaffee nach der anderen – noch mehr Energie im oberen Körperbereich. Das Dreieck ‚steht Kopf’.
Zen gleicht diese Kopflastigkeit aus. Je mehr wir Zen üben, desto mehr Stabilität bekommt unser Dreieck mit einer starken Basis. Der Hara liegt in der unteren Mitte, eingebettet in eine felsenfeste Pyramide des Körpers. Die Sitzhaltung ist darauf ausgerichtet, den Schwerpunkt im unteren Körper zu halten. Der große ‚Zen-Entdecker’ im Westen, der Philosoph Karlfried Dürckheim, hat dementsprechend den Hara ‚die Erdmitte des Menschen’ genannt. Dort liegt die Kraft. Shunryu Suzuki, einer der Zen-Pioniere in den USA, sagte darüber: „... Desgleichen müsst Ihr, um Kraft in Eure Haltung zu gewinnen, das Zwerchfell nach unten gegen Euren ‚Hara’, den Unterleib, drücken. Das hilft Euch, Euer physisches und psychisches Gleichgewicht zu bewahren.“ Und: „Legt beim Stehen wie im Zazen etwas Kraft in Euren Unterleib.“ Ebenso spiegelt sich in der Handhaltung die Betonung auf den Hara. Die Hände haben Kontakt zum unteren Bauch, entweder die rechte Handinnenfläche wie im Rinzai-Zen oder die Handkanten wie im Soto-Zen.
Der große Zen-Meister und Reformator aus dem 18. Jahrhundert, Hakuin-Zenji, wurde einmal von einem Schüler über die Essenz des Zen gefragt. Er antwortete:
„Wenn ich gefragt werde, worin dieser Geist des Zazen besteht, antworte ich: in einem wahrhaftig gütigen, mitleidvollen Herzen zu jeder Zeit, ob man spricht oder beim Schreiben mit dem Ellbogen zuckt, ob man sich bewegt oder ruht, ob man Glück hat oder Unglück, ob man Ehre oder Schande erfährt, Gewinn oder Verlust, Recht oder Unrecht – wenn man all diese Dinge in einer einzigen Verszeile bündelt und die ganze Energie mit der Kraft eines soliden Felsens unterhalb des Nabels auf den Unterleib konzentriert – das ist der Geist des Zazen.“
Die moderne Wissenschaft hat auf einer anderen Ebene ebenfalls die große Bedeutung des Bauches entdeckt. Wissenschaftler sprechen sogar von unserem eigentlichen ‚ersten’ Gehirn, das mit unserem ‚zweiten’ Gehirn, dem im Kopf, über den Nervus vagus in enger Verbindung steht. Die Neuronalzellen im menschlichen Bauch sind ebenso viele wie ein Hund oder eine Katze im Kopf haben. Der französische Wissenschaftler Michel Neunlist von der Universitätsklinik Nantes sagt sogar: „Sigmund Freud erkannte ganz richtig, dass das Ich keinen Sitz im Körper hat, jedenfalls nicht im Gehirn. Vielleicht befindet sich der Sitz des Ich eher im Bauch.“
Diese Ansicht ähnelt der fernöstlichen sehr. Denn wenn es in Ostasien ein Zentrum des Menschen gibt, dann ist es im Bauch. Von dort geht die Kraft aus, die Intuition und die Charakterstärke. Wenn man in Japan sagt, „Jemand hat einen großen Bauch“, heißt das, er ist großzügig. Der Ausdruck ‚der Bauch sitzt’, bedeutet, jemand ist gelassen. Diese Gelassenheit wird im Zen durch die Aufmerksamkeit auf den Hara geübt und gestärkt. Denn es geht beim Zazen nicht darum, Chakren zu aktivieren oder ein drittes Auge zu öffnen. Wohl spricht man im Zen von der Öffnung des Dharma-Auges. Damit ist die Einsicht, das Satori, gemeint. Dieses Dharma-Auge sitzt jedoch nicht zwischen den Augen, sondern – überspitzt gesagt – es sitzt im unteren Bauch.
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