Zen-Meister Muho Nölke ist der einzige deutsche Abt eines japanischen Zen-Klosters. Er ist Ehemann und Vater von drei Kindern. Mit uns sprach er über die Kunst des Loslassens, Meditation als Körperpraxis und den Sinn des Lebens.
Von Ihnen stammt der Satz: „Das Leben hat keinen Sinn, deswegen ist es ja so schön.“ Wieso ist das denn so schön?
Muho Nölke: Die Suche nach Sinn und Glück oder – im Zen – Erleuchtung führt uns von der eigentlichen Sache weg. Die eigentliche Sache ist das Leben, das wir hier und jetzt führen. Wenn ich mich aber frage, welchen Sinn hat denn das Leben, bin ich in Gedanken schon woanders. Ich für mich würde sagen: Sinn, warum? Wenn es einen Sinn im Leben gäbe, wäre er ja schon woanders. Warum nicht einfach leben, in diesem Moment?
Ihre Mutter starb, als Sie sieben Jahre alt waren. Daraufhin fragten Sie sich, was es mit dem Leben eigentlich auf sich hat. Statt vor dem Tod hatten Sie Angst vor dem Leben. Was führte dazu, dass Sie sich irgendwann sagten: „Das mit der Suche nach dem Sinn des Lebens lasse ich besser sein“?
Letztlich war das der Buddhismus, aber es war ein relativ langer Weg. Mit 16 bin ich durch Zufall mit ZenMeditation in Kontakt gekommen. Ich lebte im Internat und wurde von einem Pädagogen in meiner Schule förmlich überredet, Zazen auszuprobieren. Später begann ich Bücher zu lesen, in denen etwas über Erleuchtung stand. Anfangs dachte ich, das ist genau das, wonach ich immer gesucht habe. Buddha hat unter dem Baum der Erleuchtung die Loslösung vom Leiden gefunden. Das will ich auch. Deswegen bin ich nach Japan gegangen, denn Zen kommt aus Japan. Nach einigem Suchen fand ich dort das Kloster, in dem ich auch heute noch bin, Antaiji. Die ersten Jahre im Kloster bin ich der Karotte, die ich Erleuchtung nenne, nachgerannt. Ich habe sie gesucht, obwohl mir gesagt wurde, dass sie sich dadurch nur mehr von mir entfernen würde. Ich stieß auf innere Widerstände. Mit der Meditation war es nicht
einfach, genau wie mit der Arbeit auf den Feldern und dem Küchendienst. Daher überlegte ich, wieder nach Deutschland zurückzufahren. Manchmal dachte ich im Ernst, dass mich das Leben im Kloster noch umbringen könnte. Andererseits wusste ich auch nicht, wohin ich in Deutschland hätte gehen sollen. Ich dachte, wenn ich es hier in Japan nicht schaffe, schaffe ich es nirgends.
Und trotz der inneren Widerstände sind Sie in Japan geblieben?
Ich musste bleiben, aber ich hatte Angst, dass es mich mein Leben kosten könnte. So fühlte ich mich. Doch dann sagte ich mir, gut, wenn du es nicht schaffst, stirbst du hier in Antaiji. Irgendwann wirst du eh sterben. Was könnte schöner sein, als ein Grab hier im Kloster zu haben? Und von dem Tag an war es plötzlich sehr viel leichter für mich. Ich musste nach nichts mehr greifen, ich musste nicht mehr kämpfen, ich musste vor nichts mehr davonlaufen. Ich war bereit zu sterben und plötzlich merkte ich, ich lebe und das ist wunderbar. Bis dahin dachte ich immer, ich lebe, aber warum? Ich lebe, aber was noch? Es muss doch noch was dazukommen. Aber auf einmal merkte ich, wenn ich bereit bin zu sterben, ist es wundervoll, dass ich lebe. Ich weiß nicht, warum das so ist. Ich weiß nicht, ob das Leben einen Sinn hat oder nicht. Aber allein die Tatsache, dass ich hier jetzt sitze und ein- und ausatmen kann, ist wundervoll.
Haben Sie generell das Gefühl, dass alles in Ordnung ist, oder gibt es auch Momente, in denen Sie sich wünschen, die Dinge wären anders?
Solche Momente gibt es. Ich bin verheiratet und habe eine Familie. Da gibt es Streit mit meiner Frau. Es kommt schon vor, dass ich sage, morgen ernten wir auf den Feldern den Weizen. Der Wetterbericht sagt, es wird schönes Wetter, aber dann fängt es doch an zu regnen. Dann sage ich, ach Mist, wir müssen jetzt noch eine Woche warten und wer weiß, ob der Weizen dann nicht von den Vögeln weggefressen wird. Aber in diesem Alltag, in dem es auch viel Unzufriedenheit gibt, habe ich gelernt, zufrieden zu sein mit dieser Unzufriedenheit. Glücklich zu sein auch mit den unglücklichen Tagen. So wie ich natürlich auch mit den glücklichen Tagen zufrieden bin.
Sie haben bereits im Internat begonnen zu meditieren. Haben Sie eine Erklärung, warum Sie das Sitzen nie losgelassen hat?
Mancher meiner Schulkollegen konnte während der Meditation ein Pendel in seinem Inneren schwingen sehen. Andere sahen sich über eine schöne Blumenwiese wandeln. Ich war immer der Einzige, der sagen musste: „Es tut mir leid, aber da war nichts Besonderes.“ Für mich war anfangs allein die Erfahrung des Sitzens – und dass ich einen Körper habe – eine riesengroße
Entdeckung. Nie wäre mir vorher in den Sinn gekommen, dass die Haltung meines Körpers mich beeinflussen könnte. Ich glaubte, es käme doch darauf an, was ich in meinem Kopf denke: Der, der da oben denkt, das bin ich. Die erste große Erfahrung war, dass Körper und Geist verbunden sind. So wie ich sitze, so bin ich auch. Die Haltung bestimmt mich. Wenn ich anders sitze und still bin, sehe ich auch die Welt anders. Plötzlich hörte ich den Regen leise vor dem Fenster fallen. Ich hörte Vögel zwitschern. Ich war mir plötzlich meines Atems bewusst, den ich 16 Jahre lang nie gespürt habe. Ich wusste nur, ich muss atmen, sonst ersticke ich. Aber gespürt hatte ich den Atem nie. Das war für mich vielleicht eine wichtigere Erfahrung als ein Pendel, das ich in meinem Inneren hätte schwingen sehen können. Ich setzte mich hin, und von Anfang an fühlte es sich so an, als stimmte da etwas. Was genau, ist schwer zu sagen. Aber ich hatte mein Zuhause wiedergefunden.
Wir sind ja Meister darin, uns mit unseren Gedanken selbst auszutricksen. Kann Meditation hierfür ein gutes Gegenmittel sein?
Durch Meditation kann die Trickkiste durchschaut werden, die wir da oben haben. Man kann dann gar nicht mehr glauben, dass man sich zum Sklaven seiner Gedanken gemacht hat. Wenn die Matrix erst mal durchschaut ist, verliert sie ihre Kraft. Und dann ist auch kein Gegenmittel mehr nötig. Der Punkt ist nur, dass wir diese Trickkiste oft nicht durchschauen wollen. Denn meist ist es viel angenehmer, sich Illusionen zu machen, als zu erkennen, dass wir die meiste Zeit unseres Lebens damit verbracht haben, irgendwelchen Karotten hinterherzulaufen, die wir uns selbst vor die Nase gehalten haben.
In Ihrem aktuellen Buch schreiben Sie: „Ein Stern leuchtet, weil er brennt. Er fragt nicht danach, was ihm sein Leuchten bringt.“ Wir Menschen scheinen es nicht ganz so einfach wie die Sterne zu haben. Wir sind zum Denken bestimmt. Ist das ein Fluch oder können wir dankbar dafür sein?
Beides. Es gibt diesen Satz im Zen: „Ein Vogel fliegt am Himmel, ohne sich Gedanken zu machen.“ Der Vogel weiß nicht, wie er fliegt. Er geht auch auf keine Flugschule. Er macht sich keine Gedanken, wie weit der Himmel ist. Nur wir Menschen machen uns diese Gedanken. Und weil wir Menschen sind, wünschen wir uns, dass wir so wären wie der Vogel. Dabei merken wir gar nicht, dass das Denken im Grunde unser Element ist – so wie das Fliegen das Element des Vogels ist. Ein Mensch denkt, und das ist gut so, denn wir sind Menschen. Es gehört zu unserem Leben dazu, auch wenn es nicht immer einfach ist. Problematisch wird es dann, wenn wir nur noch denken und vergessen, dass das Leben so viel mehr ist als Denken. In der spirituellen Szene gehen wir allerdings manchmal zu weit mit dem Verleugnen des Denkens. Da gibt es dann Vorstellungen wie: „Du hast keine Probleme mehr, wenn du nicht mehr denkst.“ Vielleicht ist es aber gut, dass wir auch Probleme haben. Wir sollten nicht versuchen, zu Robotern zu werden oder einfach nur ‚happy‘ sein zu wollen. Ich glaube, für den Menschen ist es wichtig, dass er auch sein kritisches Denken behält und überlegt, was er vielleicht besser machen, wie er die Welt ändern kann. Ich nehme die Welt heute an, so wie sie ist. Was bleibt mir anderes übrig? Aber das erlaubt mir auch, sie morgen zu ändern. Ich glaube, diese zwei Dinge können zusammengehen, auch wenn manchmal so getan wird, als müssten wir das eine dem anderen vorziehen. Wir dürfen die Welt so annehmen, wie sie ist, aber genau deshalb dürfen wir auch versuchen, eine Revolution zu starten.
Als Sie neu im Kloster waren machten Sie einige Fehler. Ihr ZenMeister meinte damals zu Ihnen: „Es geht hier nicht um dich.“ War das für Sie ein entscheidender Hinweis? Eigentlich ist es selbstverständlich, aus der Perspektive der anderen geht es nicht um einen selbst. Aus meiner Perspektive bin ich ganz selbstverständlich davon ausgegangen, dass es natürlich um mich geht. Am Anfang hatte mir mein Meister auch gesagt: „Du erschaffst Antaiji. Was du hier sehen und erfahren kannst, liegt an dir. Du musst Buddha werden. Wenn du in Antaiji nicht Buddha wirst, gibt es Buddha nirgendwo.“ Und plötzlich sagte er mir, es ginge gar nicht um mich. Da merkte ich, Buddha zu leben bedeutet letztlich, von mir selbst abzusehen und mich in jedem Ding, in jeder kleinen Erfahrung wiederzufinden. Es ist wichtig zu erkennen: Nur ich kann mein Leben leben, keiner kann das für mich machen. Aber dafür muss ich mich selbst loslassen und mich dem Leben überlassen. Das Leben lebt schon durch mich. Ich stehe dem nur allzu oft im Weg. Sobald ich loslasse, spüre ich: Oh, all das, was ich sehe und höre in diesem Moment, das bin ich. Das ist aber gar nicht so einfach.
Erschwert es den Prozess des Sterbens, wenn man sich selbst zu wichtig nimmt?
Genau, aber das kann man üben. Das ist das Glück, das wir haben, dass man mit jedem Atemzug loslassen kann.
Sie sagen auch: „Jeder Tag des Lebens ist ein Tag des Sterbens.“
Der heutige Tag kommt nicht zurück. Morgen wird nicht heute sein. Ich kann mit dem nächsten Atemzug den jetzigen nicht nachholen. Dies bedeutet aber nicht, dass ich meine Lungen jetzt vollpumpen muss und dann versuche, nicht mehr auszuatmen. Sondern ich atme aus, und es ist wieder Luft zum Atmen da.
Was antworten Sie jemandem, der sagt: „Okay, das kann ich üben, aber ich habe trotzdem Angst vor dem Tod.“
Hab Angst! Warum keine Angst haben? Das gehört auch zum Leben dazu. Aber schau dich auch um, bis heute ist jedem das Sterben gelungen. Manche hatten Angst vor dem Tod und sind gestorben und heute friedlich tot. Andere hatten keine Angst vor dem Tod und sind auch gestorben. Die Angst wird dir das Sterben nicht erleichtern, aber auch nicht erschweren, denn sterben wirst du. Mach dir Angst, wenn du willst, aber du musst dir keine machen.
Wenn Sie auf Ihr bisheriges Leben blicken, können Sie aufgrund Ihrer Erfahrungen sagen, was uns Menschen verbindet, was uns ausmacht?
Gute Frage. Eigentlich ist es eine Überraschung, dass wir alle die Welt durch verschiedene Augen sehen, obwohl wir in derselben Welt leben und dasselbe Leben leben. Umgekehrt könnten wir sagen: Obwohl wir so egoistisch sind und eigentlich nur den eigenen Schmerz echt spüren, ist es ein Wunder, dass es doch immer wieder Momente der Liebe gibt oder das Gefühl des Verbundenseins, die Solidarität, die Freundschaft und selbstlose Hilfe. Das macht uns als Menschen genauso aus wie der Egoismus. Es ist ein totales Mysterium für mich, dass wir diese beiden Seiten in uns tragen, diesen Egoismus, bei dem uns der andere total egal ist, und andererseits auch diese Großzügigkeit und Verbundenheit. Ich selbst versuche mein Leben so zu leben, dass ich es teile. Das Leben, das mir geschenkt wurde, möchte ich mit anderen teilen.
Foto © Norbert Hübner