Aus dem Alltag aussteigen und zur Ruhe kommen: Ein Vipassana-Retreat bringt Herausforderungen mit sich. Ein persönlicher Erfahrungsbericht.
Zehn Tage sïïla – moralisches Leben: kein Töten, kein Stehlen, keine Suchtmittel, kein Sex und kein Lügen. Letzteres durch Schweigen verunmöglicht. Warum Sex und Suchtmittel mit der Moral nicht kompatibel sind, entzieht sich meinem Verständnis. Toleranz gehört auch zur Kunst des Lebens. Als sogenannter alter Schüler kommt erschwerend hinzu, ab zwölf Uhr mittags nicht mehr zu essen. Ich mache das Vipassana-Retreat zum zweiten Mal.
Wir beginnen am ersten Tag mit der Beobachtung des eigenen Atems. Drei Tage lang samādhi, Konzentration. Der Versuch, keinen einzigen Atemzug unbeobachtet zu lassen. Nicht während der täglichen zehn Stunden in der Meditationshalle, nicht während der Spaziergänge im Garten, nicht während ich im Bett den Schlaf suche. Gleichzeitig achte ich auf Empfindungen zwischen Oberlippe und Nase. Ein Kitzeln, Wärme, Vibrieren, Spannung, Druck, jeder Reiz wird erfasst. Bald spüre ich feinste Empfindungen, die nach Darstellung der Lehre – nicht meinem Ersinnen nach – das Schwingen der subatomaren Teilchen sind. Ein feines, angenehmes, gleichförmiges Kribbeln. S. N. Goenka, der 2013 verstorbene bekannte Vipassana-Lehrer, wird im Laufe der Tage per Tonbandaufnahme dazu auffordern, den Beobachtungsbereich zu verkleinern. Je kleiner der Bereich, umso sensibler wird der Verstand.
Mich auf den Atem zu fokussieren fällt leichter als beim ersten Retreat. Weniger Gedanken kommen und sie vergehen auch schneller wieder. Was nicht funktioniert, ist, den Atem in seiner Natürlichkeit zu beobachten. Sobald ich mich auf ihn einlasse, manipuliere ich Stärke oder Frequenz. Es scheint mir wie die körperliche Erfahrung der Heisenbergschen Unschärferelation, eine Erkenntnis der modernen Quantenphysik. Bei einem subatomaren Teilchen können nicht gleichzeitig zwei komplementäre Eigenschaften, wie Ort und Impuls, exakt bestimmt werden. Als Beobachter verändert man unweigerlich immer eine der beiden Eigenschaften. So wie ich den Atem ungewollt beeinflusse, sobald ich beginne, ihn zu beobachten.
Am vierten Nachmittag erklärt Goenka die Vipassana-Technik. Den Körper Stück für Stück auf einem fixen Pfad nach Empfindungen absuchen. Erfahren, dass alles veränderlich ist. Wie Gefühle kommen und wieder gehen. Darum Gleichmut entwickeln. Wenn alles vergänglich ist, macht weder Aversion noch Begierde Sinn. Während der knapp zwei Stunden langen Unterweisung tobt ein Gewitter über der Meditationshalle. Die Donnerschläge verleihen der Szene Mystik. Beim Verlassen der Halle überraschen mich 20 Zentimeter Schnee. Als würde die Natur Goenka Nachdruck verleihen wollen. Anicca, alles Veränderung.
Wir sitzen dreimal täglich adhiţţhāna, mit starker Entschlossenheit. Eine Stunde lang bleiben die Augen geschlossen, die Position wird nicht verändert. Die Stunde verfliegt, wenn die angenehmen Gefühle kommen, aber die Zeit dehnt sich, wenn sich Rückenschmerzen verhärten. Die körperliche Erfahrung der speziellen Relativitätstheorie. Zeit ist relativ. Der Gleichmut muss bewahrt werden. Gleichmut gegenüber einem Messer zwischen zweitem und drittem Lendenwirbel, das um 90 Grad gedreht wird, und Gleichmut gegenüber dem Gefühl, mit einer Schrotflinte beschossen zu werden, deren Ladung die Orgasmen der letzten zehn Jahren enthält. Das ist die Übung. Nach sïïla und samādhi ist das der dritte Teil der Technik, paññā, Weisheit. Vergänglichkeit am eigenen Körper erfahren – bis hin zur Erleuchtung. Die Erleuchtung besteht vielleicht lediglich in der Erkenntnis, mit dem zufrieden zu sein, was ist. Zuckerbrot oder Peitsche. Denn es sind weder Subjekte noch Objekte, die wir lieben oder hassen, sondern nur die von ihnen ausgelösten vergänglichen Gefühle, die wir am eigenen Leib verspüren. Kurz konnte ich den Zustand erleben, wenn der Körper sich im freien Fluss der Empfindungen dematerialisiert und zu einer hochfrequenten stehenden Welle wird. Zu überwältigend ist dieses Befinden, um nicht den Gleichmut zu verlieren und Verlangen zu generieren. Dann fällt die Welle wie ein Kartenhaus zusammen und wird für viele Meditationsstunden blockiert. Nun verstehe ich, warum man Siddhartha Gautama, den Buddha, zu einem Gott gemacht hat. Es braucht schier übermenschliche Attribute, um dieser Begierde mit Gleichmut zu begegnen.
Ich kann mit buddhistischem Klimbim wie Wiedergeburt, Erleuchtung oder aufsteigenden Saṅkhāras – eine Art Saat von Begierden und Aversionen, von der wir durch Vipassana gereinigt werden sollen – eigentlich nichts anfangen. Die positiven Auswirkungen des Retreats sind dennoch unbestritten. Das habe ich erlebt. Von der tagelangen Abstinenz von Geschwafel oder globalen News, einer digitalen Entgiftung, bis hin zur spürbaren
Stärkung des Gleichmuts und der damit einhergehenden geistigen und sogar körperlichen Linderung von Leid. Leider ist dieser Zustand ohne ein regelmäßiges, konsequentes Üben nicht nachhaltig.