Sich sammeln, zur Besinnung kommen, neu ausrichten. Keine Zeit eignet sich für ein meditatives Retreat besser als der Jahreswechsel.
Die Zeit zwischen Weihnachten und den Heiligen Drei Königen ist im europäischen Brauchtum auch als Zeit der „Raunächte“ bekannt. Oft zeigt sich die „Wilde Jagd“ am Himmel, eine stürmische Macht zur Mittwinterzeit, die um den 6. Januar zur Ruhe kommt. Bildlich gesprochen kann diese Periode auch als der Gärung aufgefasst werden. Man blickt auf das alte Jahr zurück und stellt sich – vielleicht bange, vielleicht zuversichtlich – auf ein neues ein. „Auf! Abermals ein neues Jahr ... Wieder eine Poststation, an der das Schicksal die Pferde wechselt“, sagt Lord Byron.
Für viele ist diese „Poststation“ um den Jahreswechsel ein Retreat, also eine Woche des Rückzugs, in der meditiert, geschwiegen und eventuell auch Yoga geübt wird. Es geht dabei um Selbsterfahrung und Einsichten im Rahmen einer Gemeinschaft. Solche organisierten Auszeiten gibt es, und man muss dazu nicht einmal zu berühmten Lehrern nach Indien oder in die Vereinigten Staaten reisen. Sie werden auch in Europa immer beliebter.
Schweigen und wahrnehmen
Sascha und Romana Delberg, die die Yogawerkstatt in Wien betreiben, stellen ihr Retreat zum Jahreswechsel unter das Motto „Yoga und Stille zu den Raunächten“, eine Veranstaltung, die im Kloster Wandorf bei Sopron im Ungarn stattfindet. Der Tagesablauf dort ist wohl strukturiert: Es finden zwei Meditations- und zwei Yogaeinheiten statt, dazu Pranayama, die yogische Atemtechnik, und Yoga Nidra, eine Methode zur Tiefenentspannung. Zwischen den aktiven Übungen hält Romana Vorträge zur Bedeutung der „Raunächte“ und zu Themen der yogischen Philosophie wie Yama und Niyama (die ethischen Aspekte des Yoga), Namarupa (ein sowohl im Yoga als im Buddhismus verwendeter Begriff für die körperlich-geistige Zusammensetzung der Lebewesen) oder Klesha (ebenfalls yogisch und buddhistisch für die „Verunreinigungen“ des Geistes). Für Neulinge ist es eine aufregende Erfahrung, für Geübte vertiefende Praxis. Das Programm enthält Elemente aus der yogischen und der buddhistischen Praxis. „Wichtig ist aber weniger, in welchen Traditionen sie stehen, sondern, dass sie den Teilnehmenden dienlich sind“, erklärt Romana.
Es ist nicht völlig, aber doch weitgehend ein Schweigeretreat. Sascha und Romana gehen jeden Tag mit ihren Hunden auf einen „Silent Walk“ in den angrenzenden Wald, und wer will, kann sich schweigend anschließen. Wer in der Yogastunde Fragen hat, kann sie stellen, auch die Anleitungen werden gesprochen. Im Speisesaal haben die, die reden wollen, einen eigenen Tisch. „Erfahrungsgemäß werden es von Tag zu Tag weniger, die dort sitzen“, stellt Sascha fest.
Am Nachmittag zum Jahreswechsel begeben sich die Teilnehmenden jeder für sich auf „Visionssuche“. Sascha: „Das ist eine indianische Tradition. Du gehst allein in den Wald im Umkreis des Klosters, lässt dich von ihm „leiten“ und achtest darauf, ob du etwas findest, das zu deinem jetzigen Leben passt beziehungsweise dir einen Hinweis gibt.“ Dazu gehört auch, dass die Teilnehmenden aufschreiben, was sie sich vornehmen und vom neuen Jahr wünschen, ebenso, was sie in ihrem Leben abschließen und loslassen wollen. Letztere Aufzeichnungen werden am Abend in einem gemeinsamen Ritual ins Feuer geworfen. Wer will, kann tanzen, auch das ist eine sehr intensive Erfahrung nach den in Ruhe verbrachten Tagen. Sascha Delberg hat schon öfter erlebt, wie lebensverändernd solche Retreats sein können. Immer wieder hätten Teilnehmerinnen und Teilnehmer danach neue Wege beschritten, ein Studium begonnen, ein Kind bekommen oder den Beruf gewechselt, berichtet Sascha.
Gemeinsam schweigen im Retreat
Das Waldhaus am Laacher See in der Nähe von Koblenz ist eine bekannte Anlaufstelle für Buddhismus-Interessierte. Betrieben wird es vom Verein Buddhismus im Westen, der von Paul Köppler 1984 mitbegründet und bis heute geleitet wird. Ein weiteres Gründungsmitglied war Ursula Lyon, die jahrzehntelange Erfahrung als Yoga- und Meditationslehrerin hat. Ihren diesjährigen Kurs zum Jahreswechsel hält sie gemeinsam mit der Yogalehrerin Angelika Neumann ab.
Der Kurs wird von der Erfahrung und Authentizität der beiden Leiterinnen getragen – und vom Schweigen. Der Schreiber dieser Zeilen, der selbst einmal daran teilgenommen hat, empfand das ungewohnte Schweigen in der Gruppe – bei der Arbeitsmeditation, sprich dem gemeinschaftlichen Arbeiten, etwa in der Küche, oder beim gemeinsamen Essen – als überaus wohltuend. Er stellte fest, dass es sich beim Reden oft weniger um Inhalte als um einen Impuls handelt, dessen Zwanghaftigkeit man erst gewahr wird, wenn man ihm einmal nicht nachgibt: große Erleichterung, es für eine Weile sein zu lassen. Das Schweigen ist jedoch nicht vollständig: Ursula Lyon spricht täglich über die Grundlagen der Meditation und der Lehre und beantwortet die Fragen ihrer Zuhörer.
Mit seinen vier Meditationseinheiten von je einer Dreiviertelstunde sowie einer Gehmeditation im Freien ist der Kurs stark auf die Praxis der Meditation ausgerichtet. Die zwei täglichen Yogaeinheiten wirken sozusagen unterstützend. Angelika Neumann: „Es werden leichte Bewegungsabläufe angeboten, die das Sitzen vorbereiten, Spannungen reduzieren, die Achtsamkeit schulen. Dem Atem wird große Bedeutung gegeben. Die Übungen werden bei Bedarf an die jeweiligen Möglichkeiten der Teilnehmenden angepasst.“ Zusätzlich werden Rituale geübt, die Ursula Lyon im Kloster in Sri Lanka und von Bhante Seelawansa, dem spirituellen Leiter des Theravada-Buddhismus in Österreich, gelernt hat.
Dieser Artikel erschien in der Ursache\Wirkung №. 110: „Familienbande"
Mut tanken
Eine andere Form von Retreat findet in der Stiftung Felsentor am Vierwaldstättersee in Luzern statt. Es liegt mitten in einem Tourismusgebiet und ist doch völlig abgeschieden. Teilnehmende fahren mit der Zahnradbahn des beliebten Ausflugsbergs Rigi bis zur Station Romiti und finden sich nach zehn Minuten Fußmarsch im Felsentor wieder. Das historische Berghotel ist heute das Gästehaus des Seminarzentrums, daran schließt das Zendo nach Art eines japanischen Zen-Tempels an.
Dort findet zu Neujahr ein spezielles Sesshin statt, das heuer von Angelika Genshin Eller geleitet wird, die in der Sangha-Kannon-do in Innsbruck aktiv ist. Es ist ein klassisches durchstrukturiertes Sesshin mit zeitigem Aufstehen, Zazen, Kinhin (Gehmeditation), Rezitation, Samu (Mitarbeit) und Schweigen. Zwischendurch hält Eller Vorträge mit anschließender Diskussion, ist auf Wunsch zu Einzelgesprächen bereit und gibt Anleitungen: „Ich komme beruflich aus der Sozialarbeit, wo es den Leitspruch gibt, jeden dort „abzuholen“, wo er oder sie gerade steht. Aber grundsätzlich ist es gar nicht nötig, zu viel anzuleiten: Zen ist nicht so sehr der Weg, bei dem man schon vorher alles bis ins Detail weiß, als der, bei dem man sich darauf einlässt, ihn überhaupt zu gehen, sprich: üben, tun, bereit sein, Kontrolle abzugeben.“
Können auch Anfänger des Zen an dem Sesshin teilnehmen? Angelika Genshin Eller: „Unsere Schule steht für Offenheit, auch mutige Anfänger sind eingeladen, gerne zu kommen! „Mutig“ in dem Sinne, dass sie offen für Erfahrungen sind, bei denen sie nicht wissen, wohin sie sie führen.“ Ihre eigene Motivation, Sesshins abzuhalten, ist sozusagen eine edle: „Ich weiß, wie sehr Zen mich in den mehr als zwanzig Jahren, seit ich es übe, bereichert und geprägt hat. Daraus ist das Anliegen entstanden, andere auf ihrem Weg zu unterstützen!“
Freude und Erkenntnis
Ähnlich klingt das Programm des Neujahrsretreats in Beatenberg: Das Haus war früher ein Ferienheim, liegt oberhalb von Interlaken mit Blick auf den Thuner See – und liegt doch in großer Abgeschiedenheit auf 1.250 Meter. Das diesjährige Neujahrsretreat wird von Fred von Allmen und Ursula Flückiger – beide Mitbegründer des Meditationszentrums – sowie Rainer Künzi geleitet, geübt werden Vipassana (Einsichts- beziehungsweise Erkenntnis-Meditation) und Mudita (Mitfreude-Meditation). Fred von Allmen: „Das Tagesprogramm sieht zwischen 6:30 und 21 Uhr abwechselnd Sitz- und Gehmeditation mit Perioden von meist maximal 45 Minuten vor; sowie eine Dreiviertelstunde Mitarbeit.“
Allerdings sollten die Teilnehmenden in Beatenberg während des Retreats weder lesen noch schreiben. Warum? Fred von Allmen: „Es geht um die eigene, erlebte Erfahrung.“ Die meisten, sagt er, hätten ohnehin schon etliche bis zahllose Bücher über Meditation und Spiritualität gelesen, nun ginge es daran, sie in echt zu erleben. Sie aufzuschreiben, trägt kaum zu ihrer Vertiefung bei. Für die theoretischen Aspekte bietet Fred von Allmen im Laufe des Jahres andere Studienseminare an.
Auch Beatenberg ist ein Schweigeretreat, die ausführlichen Meditationsanleitungen und abendlichen Vorträge erfolgen aber auf Schweizerdeutsch. Ob man das versteht? Dominique Schmuki von der Administration: „Es gibt immer wieder Teilnehmer aus Deutschland oder Österreich, ganz fremd sollte es einem aber nicht sein!“ Für jene, die sich das Schweizerdeutsch nicht zutrauen, könnte das in der zweiten Jännerwoche stattfindende – jedoch nur zweieinhalb Tage dauernde – Vipassana-Retreat mit Stefan Lang und Samuel Theiler eine Alternative sein.
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