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Achtsamkeit & Meditation

Buddha beschreibt einen Weg aus dem Leiden. Das Bewusstwerden der Gedanken und Gefühle spielt dabei eine große Rolle.

Auszug des vierten Bands „Buddhas Weg in die Freiheit“ aus der Serie „Möge die Übung gelingen“ von Peter Riedl.

Diese ersten beiden Strophen des Gedichts Bundeslied der Galgenbrüder hat Christian Morgenstern am Vorabend des Ersten Weltkriegs geschrieben. Er hatte an den Galgenliedern seit 1885 gearbeitet. Sie sind 1905 erstmals bei Bruno Cassirer, Berlin, erschienen:

O schauerliche Lebenswirrn,
wir hängen hier am roten Zwirn!
Die Unke unkt, die Spinne spinnt,
und schiefe Scheitel kämmt der Wind.

O Greule, Greule, wüste Greule!
Du bist verflucht! so sagt die Eule.
Der Sterne Licht am Mond zerbricht.
Doch dich zerbrach’s noch immer nicht.

In dem Gedicht gibt es keinen einzigen Hinweis auf die Politik jener Zeit. Es wird sogar als humorvoll bezeichnet, doch kann man den Wahnsinn, der zu zwei Weltkriegen geführt hat, besser beschreiben? Er steht nicht in den Versen des Gedichts, liegt aber dahinter. Das ist das Mystische, das Geheimnisvolle, das, was in der Tiefe verborgen liegt und, so wie hier, an die Oberfläche gelangen und sichtbar werden kann.

Meditation und Mystik

Buddha hat einen nachprüfbaren Weg aus dem Leiden beschrieben, den ich zeitgemäß rational interpretiere. In den frühesten Texten werden mystische, metaphysische und religiöse Inhalte weitgehend ausgespart. Allerdings nicht ganz, es ist auch von Wiedergeburt die Rede, von heiligen Männern, die durch die Lüfte fliegen. Fraglich ist, ob das von Buddha selbst stammt oder später hinzugefügt wurde. Wenn es kein Ich gibt, keine Seele, nichts Absolutes in einer Person, kann diese auch nicht wiedergeboren werden. Das Ich bei Buddha ist kein unveränderliches Ding, sondern ein Prozess des sich ständig wandelnden Körpers und Geistes. Dieser Prozess kann natürlich vor der Geburt begonnen haben und sich nach dem Tod fortsetzen. Wer weiß? Ich habe in meiner Interpretation der alten Lehre derartige Inhalte nicht berücksichtigt. Das bedeutet aber nicht, dass es Mystik in der buddhistischen Praxis nicht gibt. Sie unterliegt der gleichen Doppelnatur wie die sogenannte Wirklichkeit. Sie ist real und gleichzeitig leer. „Leerheit ist Form und Form ist Leerheit“, lautet die zentrale Aussage im Herz-Sutra des Mahayana-Buddhismus. „Da ohnehin alles Illusion ist, wunderbar, wie es ist, nichts zu tun hat mit Gut oder Böse, Haben-Wollen oder Ablehnung, sollte man doch immer wieder herzlich lachen.“, sagt Long Chen Pa, ein tibetischer Mystiker des 14. Jahrhunderts. Auch das ist Mystik.

In der Meditation betritt man einen weiten Raum. Die erste meditative Versenkung ist ein durch und durch mystischer Zustand. Ich beschreibe Buddhismus als Geistestraining, aber er ist auch eine Religion. Mystische, esoterische und religiöse Inhalte sind im tibetischen Buddhismus, im Zen, vor allem aber im Reinen-Land-Buddhismus hinzugekommen. In Asien ist Buddhismus, so wie er heute gelebt wird, vor allem eine Volksreligion. Unser Taxifahrer in Sri Lanka blieb bei fast jeder Buddhastatue am Straßenrand stehen und bat um eine heile Weiterfahrt. Leguanen wich er, Gott sei Dank, regelmäßig aus. Er erklärte, er würde als Tier wiedergeboren werden, sollte er den Leguan unabsichtlich überfahren. Täte er das allerdings absichtlich, kämen sogar noch seine Kinder als Vierbeiner auf die Welt. Glaube kann also nicht nur Berge versetzen, sondern auch Leguane schützen. Doch Buddhismus will nicht nur den Tieren das Leiden ersparen, sondern allen Wesen. Diese Überwindung des eigenen Leidens muss man in der frühbuddhistischen Übung selbst verwirklichen. Später wird das auch durch eine sogenannte Übertragung von „Verdiensten“ hoher Lehrer auf ihre Schüler möglich.

Ich beschreibe eine Methode, Wissen und Ethik. Das bedeutet nicht, dass man zu Buddha nicht Zuflucht nehmen oder nicht auch an etwas glauben kann. Sind das allerdings persönliche Götter, wird man mit dem Begriff der Leerheit in Schwierigkeiten geraten. Ich zünde mir bei jeder Meditation ein Räucherstäbchen und eine Kerze an, meine Frau mag den Geruch nicht. Ich habe es gern heilig und liebe Rituale.

Durch die Praxis der Meditation kann man sogar sogenannte außergewöhnliche Fähigkeiten, „Siddhis“, erlangen. Sie haben nichts mit Erleuchtung zu tun. Es sind Kräfte, etwa jene der Intuition, der Klarheit, der Ruhe, auch jene, mit den Händen heilen zu können. Glaubt man alten Texten, kann man sogar über das Wasser gehen.

Bewusstwerden

Das Bewusstwerden der Gedanken und Gefühle spielt eine große Rolle

Das buddhistische Lehrgebäude ist umfangreich. Es gibt nicht das eine verbindliche Buch, in dem der Weg zum Ziel, der Erleuchtung, besser zum Erwachen, beschrieben ist. Der Zugang zur Lehre ist daher nicht einfach.

Ich sehe es als meine Berufung, einen praktizierbaren Weg für aufgeklärte Menschen zu beschreiben. Glaubensfragen, wie jene nach der Wiedergeburt, klammere ich dabei aus.

Das Ziel ist Erwachen, auch als Erleuchtung, Wissen und Erkenntnis beschrieben, und kann in diesem Leben erreicht werden. Woher Leben und Bewusstsein kommen und wohin sie gehen, ist in dieser Betrachtungsweise nicht von Bedeutung, was Erwachen ist, schon.

Erleuchtung ist, wie Wissen und Erkenntnis, kein Zustand, sondern ein sich wandelnder Prozess. Erleuchtungserlebnisse und Einsichtsmomente können in ein erleuchtetes Leben, ein von Weisheit und Mitgefühl durchdrungenes, führen. Menschen, die dieses Ziel erreicht haben, werden als Buddha bezeichnet. Sie sind gleichmütig, mitfreudig, mitfühlend und liebevoll. Diese Zustände stellen sich ein, wenn alle negativen Kräfte, wie Aufgeregtheit, Stress, Ärger, Zorn, Eifersucht, Ängstlichkeit, Minderwertigkeit, Überwertigkeit und die vielen anderen geistig-emotionalen Zustände, an denen der Mensch leidet, bis in ihre Tiefe und in sämtliche Erscheinungsformen erkannt, untersucht und fallen gelassen werden. Dazu muss man erwachen, voll bewusst sein. Der Mensch aber denkt und fühlt zu neunzig Prozent unbewusst.

Übung zum Denken und Nichtdenken

Den Unterschied zwischen Theorie und Praxis kann eine kleine Abschlussübung zeigen:

Sich zur Meditation hinsetzen und eine halbe Stunde bewusst nicht an ein rotes Krokodil denken.

Für mich ist das eine Königsübung. Zur vollständigen Beherrschung dieser Meditation sind Jahre nötig.

 

Die Ursachen unseres Leidens liegen im Denken und Fühlen. Beides kann man kultivieren und lernen. Durch die Sinne wird die Welt wahrgenommen, durch sie ist man mit ihr verbunden. Das, was wahrgenommen, gesehen, gehört, gefühlt, gerochen, geschmeckt und gedacht wird, lässt in einem immer und ganz automatisch ein Gefühl entstehen. Welches Gefühl das ist, das hat mit dem vergangenen Leben bis zu diesem Augenblick zu tun, mit dem, wer und was man jetzt ist, was einen ausmacht, dem Geschlecht, der Erziehung, allem, was erlebt wurde, den Vorurteilen, dem Unwissen und Wissen. Im Buddhismus wird das als Karma bezeichnet. Wem das zu esoterisch klingt, der kann es Gewordenheit, Person, Ich oder Selbst nennen. Das, was mit diesen Begriffen bezeichnet wird, ändert sich ständig.

Die entstehenden Gefühle und Gedanken bedingen, wiederum ganz automatisch, Reaktionen, die sich als Ärger, Sorgenmachen, Freude oder Großzügigkeit äußern können. Sie werden als Triebe bezeichnet und entstehen jenseits der Kontrolle. Auch wenn man glaubt, dass Äußerungen bewusst sind, ist das in Wahrheit fast nie der Fall. Man reagiert immer auf das Gefühl, das bei dem, was gehört oder gesehen wird, entsteht. Wenn ein Buch betrachtet wird, sieht man Seiten und Buchstaben. Mehr nicht. Erst durch den Betrachter wird daraus die Bibel oder die Mickey Mouse und das bedingt die Reaktion, die so unterschiedlich ausfällt, wie unterschiedlich Menschen eben sind. Das ist ein ewiger Prozess. Äußern sich die triebhaften Reaktionen als Ärger und Wut, leidet man darunter und/oder es leiden jene, auf die sich der Ärger oder die Wut bezieht. Man ist diesen Trieben ausgeliefert und weiß nicht, wie sie beendet werden können.

Freiheit und Angst

Freiheit beginnt immer erst jenseits der Angst. Entwicklungswege können daher auch dunkle Pfade durch die Angst sein. Angst überwindet man, indem man sie betrachtet, untersucht und annimmt. Und zwar bedingungslos und gnadenlos gegen sich selbst. Danach kommen erst Freiheit, Erfolg und Freude. Sie stellen sich erst ein, wenn man sie weder haben muss noch braucht.

Etwas zu haben, das man weder haben muss noch braucht, scheint paradox. Es ist wie mit dem sprichwörtlichen Kamel, das durch das Nadelöhr hindurch soll. Vor dem Nadelöhr weiß das Kamel nicht, wie und was es tun muss. Auf diese Ungewissheit muss man sich einlassen. Auf der anderen Seite des Nadelöhrs ist alles wieder einfach. Der Weg hindurch erfolgt allerdings selten linear und ist niemals einfach. Es führt durch Krisen, Höhen und Tiefen, durch Ängste und lichte Momente.

 

Um den Trieben nicht mehr ausgeliefert zu sein, wurden Methoden entwickelt:

Meditation, um bewusst und konzentriert zu sein.

Achtsamkeit, um klar nach außen, vor allem aber nach innen zu schauen.

Untersuchung, um die Prozesse des Lebens zu erkennen.

Anstrengung, um negative Dinge wie Wut nicht entstehen zu lassen und, wenn das doch geschehen ist, sie zu beenden und positive wie Liebe entstehen zu lassen und zu bewahren.

Solange man bleibt, wie man ist, wird man sich in der nächsten gleichen Situation so verhalten wie in der Vergangenheit. Um sich anders zu fühlen, zu denken und zu handeln als bisher, muss man sich ändern. Ein anderer werden, Grenzen des Bekannten überwinden und ins Unbekannte vorstoßen. Die Leerheit muss erkannt werden, was nichts anderes bedeutet, als zu erkennen, dass jeder seine Welt selbst erschafft, so, wie sie sein sollte, und nicht, wie sie ist. Das Prinzip der Vergänglichkeit aller Dinge muss erkannt werden. Wozu sich an etwas hängen, was ohnehin vergeht? Die Erkenntnis lautet: Man wird immer wieder leiden, wenn man bleibt, wie man ist. Das Rätsel des Leidens besteht in den Trieben, wie sie in einem entstehen und vergehen, welche Gefühle sie in einem bewirken und wie bewusst beziehungsweise unbewusst diese Gefühle sind. Sind sie einem nicht bewusst, und das ist fast immer der Fall, reagiert man bedingt auf das nicht bewusste Gefühl, also unfrei. Bewusster zu werden, ist der Schlüssel in die Freiheit.

Möge die Übung gelingen.


Dieser Artikel erschien in der Ursache\Wirkung №. 116: „Leben, lieben, lachen"

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Schreiben

Ich schreibe Bücher über das buddhistische Geistestraining, weil ich es für mich als wertvoll erlebt habe. Ich habe es aufgrund meiner Erfahrungen aus alten Texten und Methoden wie bei einer Schatzsuche an die Oberfläche und in eine neue Form gebracht. Worüber ich schreibe, ist leicht zu verstehen. Es ins eigene Leben zu integrieren, ist nicht einfach.

Über Verzückung zu lesen oder sie als Eintrittspforte in die tiefer liegenden Stadien der Meditation zu erfahren, ist nicht das Gleiche. Die Lehrrede der bedingten Entstehung ist eine der wichtigsten, wenn nicht die wichtigste Lehre, will man frei werden und aufhören zu leiden. In den buddhistischen Ländern wird sie millionenfach rezitiert. Das allein trägt, so wie die meisten traditionellen Beschreibungen, wenig zum Verständnis dieser Lehre bei. Erst durch jahrelange Meditation und Achtsamkeit hat sich mir die tiefe Weisheit dieser Lehre erschlossen. Gedanken, Gefühle, Absichten und Handlungen entstehen und vergehen, fast ohne eigenes, auf jeden Fall oft ohne bewusst willentliches Zutun. Ich habe gelernt, Denken bewusst beenden zu können, zwischen Denken, Fühlen und Nichtdenken zu unterschieden und meine Bewusstheit auf die Gedanken und Gefühle zu erhöhen.

Die grundlegenden Übungen, mit denen man einen klaren und ruhigen Geist entwickeln kann, sind Meditation, Achtsamkeit, Untersuchung und Anstrengung. Über sie schreibe ich immer wieder. Doch nur darüber zu lesen, ist nicht genug. Erst die Praxis führt zur Erkenntnis, die in Stufen verläuft: zur Ruhe kommen, Probleme lösen, Selbstbestimmung entwickeln, Reifen und Wachsen – frei werden.

Alle Menschen wollen glücklich und zufrieden sein. Es liegt in der Hand jedes Einzelnen, dieses Ziel zu erreichen.

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Univ.-Prof. Dr. Peter Riedl

Univ.-Prof. Dr. Peter Riedl

Peter Riedl ist Universitätsprofessor für Radiologie und seit über 30 Jahren Meditations- und Achtsamkeitslehrer. Er ist Gründer und war bis Juni 2019 Herausgeber der Ursache\Wirkung, hat W.I.S.D.O.M., die Wiener Schule der offenen Meditation und das spirituelle Wohnheim Mandalahof gegründet. S...
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