In der Meditation kann man beobachten, wie aus den Ansammlungen von Körper und Geist das Konstrukt „Ich“ entsteht, vor allem wenn eine Mücke die Ruhe stört.
„Was ist eine Person?“, fragte jemand den Buddha. Das Greifen nach den fünf Skandhas – Haufen oder Ansammlungen – war seine Antwort: die Ansammlung der Formen, Empfindungen, Wahrnehmungen, Gedanken und Muster sowie des Bewusstseins. Darin geschieht Greifen.
Die Sommerhitze draußen weicht langsam dem kühleren Abend. Ich sitze in der Meditationshalle, im Tiefparterre. Der kaum hörbare Atem der Meditierenden, hin und wieder ein leises Rascheln, mehr als zwanzig Menschen sitzen gemeinsam in entspanntem Schweigen. Ein feiner Ton. Ein hohes Sirren. Durch die offenen Fenster dringt das sanfte Rauschen der Blätter zu mir.
Die wahrgenommene äußere Welt, mein Körper und all die Geräusche gehören zum Bereich von Rupa, der Form, dem Körper, und umfassen alles, was wir als körperlich oder mit den Sinnen erfahren. All die kleinen Geräusche in der Halle: Hörsinn verbindet sich mit Hörobjekten/Tönen.
Dann kommen vier Ansammlungen des Geistigen. Die Stille ist angenehm. Hier bemerke ich das zweite Skandha: Vedana, die Gefühlstönung – angenehm, unangenehm oder neutral.
Das Sirren. Eben noch neutral, doch plötzlich: Eine Mücke! Mein Körper spannt sich an. In einiger Entfernung höre ich ihr Sirren. Es schwillt an und dann wieder ab.
Schon jetzt hat sich die neutrale Empfindung aufgelöst und nähert sich schnell dem unangenehmen Bereich.
In Verbindung mit Sanna, der Wahrnehmung, werden Sinneseindrücke als Bedeutungszusammenhänge interpretiert, sodass ich die Mücke als eine Mücke erkenne.
In jedem Augenblick und schneller als ein Wimpernschlag erscheinen diese Aspekte aus den ersten drei Ansammlungen. Immer wieder andere, in jedem Moment, geprägt von Vorerfahrungen und vielen anderen Faktoren des Geistes.
Aus all den Eindrücken meines Geistes werden bestimmte herausgegriffen, je nach Vorerfahrung. Dabei entsteht das „Ich“.
Ich höre die Mücke. Meine Aufmerksamkeit ist jetzt sehr fokussiert. Ich warte gespannt darauf, dass der Ton mitsamt der Mücke näher kommt und abbricht, wenn sich die kleine Blutsaugerin auf meine Haut setzt.
Der vierte Bereich heißt Sankhara, frei übersetzt als: alles, was wirkt. Die aktiven und reaktiven Kräfte der Psyche, der Zustand des Geistes, die heilsamen und unheilsamen Emotionen. In diesem Bereich der Gedankenformationen ist viel los. Was für ein Riesenhaufen!
Wo wird die Mücke landen? Auf Arm, Bein, im Nacken, auf der Fußsohle? Sind meine Füße unter der Decke geschützt? Das ist das Schlimmste: Mückenstich unterm Fuß. Hätte ich doch wenigstens meine Beine richtig in die Decke eingewickelt. Einen Moment lang überlege ich fieberhaft, ob ich schnell und unauffällig das Tuch über meine zarten, ungeschützten Füße ziehen soll.
Währenddessen, unbeeindruckt, das feine Surren des Insekts, anschwellend und wieder abschwellend. Wer hat denn das Fenster offen gelassen? Das ist doch wirklich nachlässig. Oh, da gibt es aber ein Mückengitter! Anspannung und Abwehr.
Über zwanzig regungslose Personen und eine Mücke. Ob sie auf mir landen wird? Entschlossenheit steigt auf: Ich werde mich nicht bewegen. Was ist schon so ein winziger Tropfen Blut. Den kann ich doch gut abgeben, habe ja fast fünf Liter.
Noch ist die Mücke nicht gelandet. Sie scheint zwischen mir und der Nachbarin langsam hin und her zu schweben und kann sich nicht entschließen, irgendwo ins Tun zu kommen. Ob die Nachbarin auch lauscht? Ob sie sich fürchtet? Ich könnte mir wünschen, dass der kleine Blutsauger bei mir genährt wird. Dann wäre die Nachbarin verschont und könnte entspannt bleiben. Ich sitze aufrecht. Meine Brust weitet sich in heroischer Bereitschaft.
Alle diese Wirkkräfte, die Abwehr und die Angst, die Gereiztheit und der Großmut, die Geduld und die Freundlichkeit, sind emotional steuernde Geisteskräfte.
In diesem Bereich der Sankhara, der Bildekräfte – der aktiven und reaktiven Kräfte unserer Psyche – können wir üben. Hier entsteht Karma: die Muster, die wir unterstützen oder die wir nicht weiter nähren. Wie die Übenden mit diesen Geisteskräften umgehen, ändert ihr Erleben der Wirklichkeit.
Ich sitze, atme – und die Mücke summt. Der zarte Ton umspielt mich, klingt schon fast wie ein Liebeslied. Die Mücke will mich. Ich bin beliebt.
Aus all diesen Erscheinungen aus den fünf Ansammlungen bildet sich immer wieder das Erlebte. Erscheint, blitzt auf, vergeht. Das Greifen nach bestimmten Inhalten bildet den roten Faden in meinen Geschichten: „Ich“. Auch das ist ein Muster, das aufblitzt und vergeht. Ein häufiges und gut einstudiertes Muster. Alles, was erscheint, sind Sinneserfahrungen und Gedanken, habe ich gelernt. Die Sinneserfahrungen sind direkt und unmittelbar.
Die fünf Skandhas Die fünf Skandhas (Haufen oder Ansammlung) sind die Antwort des Buddha auf die Frage: Was ist eine Person? Sie bestehen aus folgenden Elementen:
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Nun lasse ich mich zurücksinken auf das erste Skandha. Ich lasse meine Aufmerksamkeit dort ruhen. Der Klang. Das Sirren. In diesem Ton ist nur das Hören. Der Raum weitet sich. Ein riesiger Raum der Stille, in dem alle Geräusche erscheinen. Der Körper entspannt sich. Atmen, Summen und tausend Geräusche mehr, jenseits von Bedeutung. Fülle.
Der Gong verdeckt fast das leise Sirren, das Rascheln der Menschen, die sich zu bewegen beginnen. Ich stehe auf und lausche. Der dünne Ton ist noch da, jedoch keine Mücke. Meine Mücke zeigt sich als ein Motorgeräusch. Ein Mähdrescher in der Ferne, ein Brummen auf der Weite des heißen Kornfelds.
Oh! Ich schmunzle, während ich vor der Halle in meine Schuhe schlüpfe. Ohne Mückenstich an meiner Fußsohle. Dafür beunruhigt. Mit der Frage, was ich noch alles missverstehe in diesem ständigen Prozess des Greifens nach Wirklichkeit.
Dieser Artikel erschien in der Ursache\Wirkung №. 121: „Mit allen Sinnen"
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