Resilienz ist aus spiritueller Sicht mehr als die Fähigkeit, mit widrigen Umständen gut umzugehen. Sie ist die Übung des Nichtanhaftens, auch in Bezug auf lieb gewonnene Gewohnheiten. Resilienz entsteht aus einer Weisheit, die über den begrenzten Verstand hinausgeht.
Das lateinische Wort resilire bedeutet „abprallen, nicht anhaften“. Wer eine buddhistische Meditationspraxis ausübt, kennt den Begriff meist schon. „Nichtanhaftung“ gehört zu den wichtigsten Übungen. Leider ist sie auch eine der schwierigsten, denn sie ist keine Fertigkeit, die wir irgendwann gelernt haben und dann für immer beherrschen. Wir müssen das Nichtanhaften in jeder Situation aufs Neue praktizieren.
Der ungeschulte Geist ist wie ein kleiner Affe, der nach jedem verführerisch aussehenden Ding greift, das in sein Blickfeld kommt.
Was ist mit Anhaftung gemeint? Buddhistische Lehrerinnen und Lehrer sprechen gern vom monkey mind, dem Affengeist. Der ungeschulte Geist ist wie ein kleiner Affe, der nach jedem verführerisch aussehenden Ding greift, das in sein Blickfeld kommt: „Oh, da ist eine reife duftende Banane!“ Der Affe greift zu. Aber dann erblickt er hoch oben in der Palme eine ganze Bananenstaude, und das betörte Äffchen lässt die jetzt uninteressante Banane fallen, schwingt sich in den Baum und greift zur Staude. Wenn wir ehrlich sind, müssen wir zugeben: Das kennen wir.
Bei jedem Gang durch die Fußgängerzone werden uns solche „Bananen“ angeboten. Ich hatte neulich eine halbe Stunde Wartezeit an einem Bahnhof und bummelte durch die Boutique auf der anderen Straßenseite, wo mir ein hübsches Shirt auffiel. Mein Geist wurde munter und malte sich aus, wie gut das Shirt zu meiner Leinenhose aussehen würde.
Wäre ich in diesem Moment in Unbewusstheit gefallen, hätte ich das Shirt vielleicht gekauft. Ich aber sah amüsiert meinem kleinen Affengeist in Aktion zu, der auch noch ein Jäckchen entdeckt hatte, das zum Shirt passen würde. Ich rollte meinen Koffer aus dem Laden und bestieg meinen Zug.
So bescheiden und alltagsnah könnte die Übung der Nichtanhaftung beginnen. Ich sehe etwas, das mir gefällt, und bemerke, wie mich automatisch der Wunsch anspringt, es haben zu wollen. Sobald wir nicht wach und bewusst wahrnehmen, was gerade in uns und um uns geschieht, sind wir in der Gewalt unbewusster Antriebe.
Resilienz entsteht aus einer Weisheit, die über den begrenzten Verstand hinausgeht.
Wenn es um wichtigere Dinge geht als um ein Shirt, kann die Unbewusstheit das Leben ins Chaos stürzen. Da lernen wir zum Beispiel einen Mann oder eine Frau kennen, geradezu eine Traumgestalt: gut aussehend, wohlhabend, charmant. Die leise innere Stimme, die uns warnt, überhören wir in unserer Gier, diese Person an uns zu binden. Es ist sehr wahrscheinlich, dass wir uns irgendwann in einem Beziehungsdesaster wiederfinden und uns fragen, wie um alles in der Welt wir in diese Situation geraten sind.
Es gibt noch weitere Formen der Anhaftung, die schwerer zu durchschauen sind: Menschen neigen dazu, sich an Gewohnheiten zu klammern, zu denen auch gewohnheitsmäßige Gedanken, Urteile und Meinungen gehören. Die Nachbarin haben wir noch nie gemocht und werden sie nie mögen, und das Kantinenessen in der Firma bereitet uns grundsätzlich schlechte Laune. Wir sind unfrei, wenn wir in Gewohnheiten gefangen bleiben, und sehen nicht, dass sich alles unablässig verändert und jeder Moment uns neue Erkenntnisse schenken kann.
Das also ist die grundlegende Übung der Nichtanhaftung: Ich schaffe innerlich eine Distanz zwischen dem Sinnesobjekt oder den Gedanken, die mich anspringen, und meiner Reaktion darauf. Wie mache ich das?
Ein Geist, der in solchen Alltagsmomenten immer wieder trainiert wird, kann enorm elastisch und widerstandsfähig werden.
Thich Nhat Hanh hat eine einfache Methode gelehrt, die ich in jeder Situation anwenden kann: Ich halte inne und atme dreimal bewusst ein und aus. Dabei folge ich dem Atem über die gesamte Länge durch meinen Körper, hinunter in den Bauch und wieder zurück. Entscheidungen aller Art werden erst einmal vertagt, drei Atemzüge lang. Jetzt ist Raum im Geist entstanden, ich überblicke die Situation besser.
Ein Geist, der in solchen Alltagsmomenten immer wieder trainiert wird, kann enorm elastisch und widerstandsfähig werden. Wir werden ihn brauchen, wenn das Leben uns vor große Herausforderungen stellt. Vielleicht stirbt unerwartet unsere Mutter, vielleicht werden wir mit einer ernsten Krankheit konfrontiert. Der ungeschulte Affengeist läuft in solchen Momenten Amok.
Wir aber haben gelernt, durch Innehalten und Atmen Raum zu schaffen, und in diesen Raum begeben wir uns nun vertrauensvoll und lauschen den Antworten auf unsere Fragen. Sollen wir dieser drastischen Therapie zustimmen oder erst einmal eine zweite Meinung einholen? Müssen wir uns wirklich „zusammenreißen“, um die Freunde nicht mit unserem Schmerz zu belasten, oder dürfen wir so lange trauern, wie es uns guttut?
Auch ein Psychotherapeut würde raten, erst einmal innezuhalten. Aber spirituelle Praxis geht weiter als Psychotherapie. Aus spiritueller Sicht entsteht Resilienz, wenn wir bewusst im Kontakt sind mit dem wahren Selbst, das im Lauf der Jahrtausende viele Namen bekommen hat, obwohl es jenseits aller Begriffe ist: die absolute Dimension, das tiefe Bewusstsein, die Wahrheit oder einfach die Stille.
Jedes Mal, wenn wir innehalten, atmen und den begrifflichen Geist zum Schweigen bringen, verbinden wir uns für ein paar Augenblicke mit dem tiefen Bewusstsein, diesem Raum der Intelligenz und Weisheit, aus dem Antworten kommen, die der begrenzte Verstand nicht geben kann. Wir sind dieser weite, grenzenlose Raum, in dem Gedanken und Gefühle erscheinen wie Wolken am Himmel und sich, wenn wir sie nicht festhalten, von allein wieder auflösen.
Wenn ich mit dem wahren Selbst verbunden bin, ist es nicht mehr mein konditioniertes Alltags-Ich, das durch Abwägen und Nachgrübeln Entscheidungen trifft. Vielmehr lausche ich auf die Anweisungen, die kommen. Inspirationen aus der Tiefe des Seins sind immer hilfreich und heilsam. Sollte da irgendeine Negativität, irgendetwas Gewaltsames mitgeteilt werden, ist dies ein Anzeichen, dass der Rat nicht aus dem wahren Selbst, sondern aus dem konditionierten Geist kommt.
Der Buddhismus spricht von den drei Geistesgiften, die den Geist trüben: Gier, Hass und Verblendung. Sie entstehen in uns als Reaktionen auf äußere Ereignisse, kommen oft in ganz harmlosen Verkleidungen daher, und wir brauchen viel Klarheit und Widerstandskraft, um ihnen nicht zu verfallen. Von der Gier, dem Habenwollen, habe ich bereits gesprochen, aber was ist mit dem Nicht-Habenwollen, der Ablehnung, die als milde Formen des Hasses gelten?
Wenn ich mir die schwierige Situation, in der ich bin, lieber schönrede, als sie in aller Klarheit wahrzunehmen und zu verändern, schläfere ich meinen Geist ein. Ich ignoriere die Wahrheit der Situation und gerate damit in das dritte Geistesgift: die Verblendung, die Ignoranz.
Gerade in dieser Zeit ist es verführerisch, Wahrheiten zu ignorieren und es sich in einer hübschen persönlichen Nische gemütlich zu machen. Will ich wirklich wissen, welche Folgen die Erderwärmung hat, wie die Flüchtlinge in ihren Containern am Stadtrand leben, wie die Tiere in den Schlachthöfen sterben?
Wenn ich unbewusst fürchte, der Realität in all ihren Facetten nicht gewachsen zu sein, verschließe ich meinen Geist. Die tiefste Bedeutung des Geistesgifts Verblendung ist der Glaube, wir seien ein begrenztes, von allem und allen anderen abgetrenntes autonomes Ich, das sich schützen muss vor der Grausamkeit der Welt.
Dieses illusorische Ich ist es, das in seiner Angst vor Vernichtung Kriege in der Welt entfesselt – vom Streit zwischen zwei Menschen oder Parteien bis hin zum Völkerkrieg mit Panzern und Bomben. Aber wer gelernt hat, den Geist sanft und beharrlich immer wieder zu öffnen und sich mit der tiefen Dimension des Seins zu verbinden, kann mit jeder Situation gut umgehen. Mein Geist ist klar und sieht die Wirklichkeit, wie sie ist. Ich habe das Mitgefühl in mir befreit und Vertrauen in die Intelligenz des Seins gewonnen. Ich bin ein resilienter Mensch geworden.
Dieser Artikel erschien in der Ursache\Wirkung №. 122: „Resilienz"
Illustration © Francesco Ciccolella
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