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Unser Neuzeit-Lexikon schreibt zum Begriff „Naivität“: „Während die kindliche Unvoreingenommenheit und Unverfälschtheit noch von vielen als positiv, sogar als rein und unschuldig angesehen wird, gilt sie bei einem Erwachsenen oftmals als ernsthafter Charakterfehler, als geistige Beschränktheit.“ Warum, um Himmels willen?

Langsam mache ich mir ja einen Spaß daraus, die Reaktionen auf meine Urlaubspläne zu beobachten. Wobei diese in letzter Zeit sehr ähnlich ausfallen. „Ägypten? Spinnst Du?“ oder „Warum Tunesien? Da fahren ja alle alleinreisenden Frauen hin.“ oder „Marokko allein? Ich verstehe Dich nicht.“ Meine Cousine schiebt Äußerungen wie diese in die Rassismus-Schiene. Ganz so weit würde ich jetzt nicht gehen wollen, doch ich verstehe die Pauschalität, die sie damit (auch) meint.

Gut, im November letzten Jahres erschien eine Studie, wonach für Frauen Kairo die gefährlichste Stadt der Welt ist. Könnte jetzt für jemanden, der dort noch nie war, ein Grund sein, NICHT hinzufahren. Weil er/sie es nicht aufprobieren muss. Jetzt könnte man das als systemimmanentes Radar bezeichnen, das bei bestimmten Kriterien zu blitzen beginnt. Beim einen sind es zu wenig Mülleimer auf den Straßen, beim anderen wenige Menschen in einer U-Bahn-Station und beim Dritten Tiere, die er nicht mag. Jeder hat eben sein ganz persönliches Frühwarnsystem. Und das hängt zweifellos mit den eigenen Erfahrungen zusammen.

Wenn ich an meine erste Orient-Reise zurückdenke, dann fand ich alles auch ziemlich schräg. Schräg wie schmutzig, laut, fremd. Und ja, ich dachte darüber nach, warum mir und meinen engen Jeans im Souk hinterher gepfiffen wurde. Aus heutiger Sicht war das der Beginn des Reisens und das Ende des Urlaubmachens. Denn damals wurde mir bewusst, dass es in jedem Land Regeln gibt, die das Zusammenleben ordnen – nicht nur unter Einheimischen, sondern unter allen Menschen dort. Und wenn ich ein Land kennenlernen wollte, dann musste ich mich zu einem gewissen Maß auf diese Regeln einlassen. Auch das hat Erholungswert. Weil es eben anders ist als zuhause. Warum sonst sollte man verreisen?

Kürzlich in Kairo, der gefährlichsten Stadt der Welt. Von der ich nicht wusste, dass sie es ist. Und die ich auch nach meinem letzten Besuch anders bewerten würde. Natürlich ist es eine Herausforderung, über die Straße zu gehen. Und hilfsbereite Männer haben mir das durch ein sanftes Umfassen meines Ellbogens und gekonntes Navigieren durch den Autostrom sehr erleichtert. Ich habe es einmal auch selbst geschafft, doch ein bisschen Fürsorge kann hin und wieder nicht schaden. Einmal überfiel mich der Hunger auf meinem Pyramidenblick-Balkon bei gleichzeitiger Unlust auf Restaurantküche. Also suchte ich den nächsten Supermarkt auf, der mehr Ähnlichkeit mit einem Greisler hatte. Nüsse, alkoholfreies Bier, Datteln – alles wurde mir behutsam aus der Hand genommen, eingetütet und mit einer Verbeugung wieder überreicht. Dass mir alle nachwinkten, empfand ich als ungewohnt, obwohl ich ein durchaus herzliches Verhältnis zum Filialleiter des meinem Haus gegenüberliegenden Supermarktes habe. Dass er an der Scheibe geklebt wäre und meinen Weg bis zum heimischen Gartentor überwacht hätte, ist mir bislang entgangen. Um 20 Minuten Alleinsein mit den Pyramiden musste ich ebenso kämpfen wie um die Tatsache, dass ich mir mein Lachssteak selbst bezahlen könne. Ist wirklich ein heißes Pflaster, dieses Ägypten!

Mich dem auszusetzen, betrachtet manch einer als Naivität. Auch diese Einschätzung begleitet mich seit Jahren. Denn nur aus Einfältigkeit und Leichtgläubigkeit kann man allein als Frau in diese Ländern reisen, richtig? Na ja, vielleicht noch wegen Sex, wie mir auch immer wieder unterstellt wurde. Ich möchte wirklich nicht wissen, wovon manchen Menschen nachts träumen. Vor allem deshalb nicht, weil ich es schon nicht verstehe, wieso man als Erwachsener nicht mehr naiv sein darf. In dem Sinne nämlich, dass man nicht mehr unvoreingenommen und unverfälscht denken und handeln kann. Wo, bitte, steht denn geschrieben, dass man in meinem Alter alles in Schubladen abgelegt, beschriftet und verschlossen haben muss? Und es nicht hin und wieder heraus nehmen darf, um zu überprüfen, ob das noch stimmt, was man vor Jahren drauf gekritzelt hat?

Natürlich habe ich auch meine Schubladen, aber zugegebenermaßen wenige. Denn ich bemühe mich permanent, Menschen und Situationen losgelöst von meinen bisherigen Erfahrungen zu betrachten. Weil ich der Meinung bin, dass sie es verdient haben, als singuläre Ereignisse angesehen zu werden. Oder möchten Sie gerne wie jemand behandelt werden, den Sie gar nicht kennen? Eben. Zugegebenermaßen: Immer funktioniert es nicht gleich gut. Doch ich bemühe mich trotzdem. Wenn beispielsweise jemand drei Stunden nicht auf meine Nachrichten antwortet, dann könnte ich ihm unterstellen, dass er untergetaucht ist. Weil ich es eben schon einmal mit so einem Menschen zu tun hatte. Ich kann aber auch annehmen, dass meine Nachricht drei Stunden lang nicht beantwortet wird, weil der Adressat gerade mit einer wichtigen Angelegenheit befasst ist. Und nach deren Beendigung schreiben wird. Merken Sie den Unterschied?

Das tägliche Leben nur mit der Brille der Vergangenheit, wahlweise der Medien, zu betrachtet, schmälert die Lebensqualität ungemein. Denn so passiert nämlich gerade mal gar nichts mehr, was dem Leben Zauber, Überraschung oder Glück entlockt. Offen, unvoreingenommen, ja naiv dem Leben und seinen Geschenken zu begegnen, ist eines der letzten Abenteuer, auf die man sich heute noch einlassen kann.

Claudia Dabringer

Claudia Dabringer

Studium der Germanistik und Publizistik in Salzburg mit allem, was zu einer Studentenzeit dazugehört. Mehrjährige Konzentration aufs Radiomachen, bis alles durchexerziert war und das Schreiben wieder im Kopf präsent wurde. Seitdem freie Journalistin und als Fachtrainerin & Schreibpädagogin...
Kommentare  
# Annegret Lehmkühler 2018-01-21 21:36
Gerne lasse ich das Kind in mir leben
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# Ernst Thomas Mlakar 2018-01-21 21:37
~ weil die die das schreiben keinen Charakter jaben ~ kein Herz ~ keine Liebe
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