Der vorläufige letzte sonnige Tag geht dem Ende zu, ebenso wie mein 52. Lebensjahr. Fast als hätte mir die Stadt ein Geschenk machen wollen, hat die Müllabfuhr auch die beiden Scheiterhaufen abgeholt, die Bäume und Sträucher in meinem Garten abgeworfen haben. Und auch ich habe das Gefühl, dass das neue Jahr sehr viel leichter beginnt.
Ich bin müde, weil ich nur wenig Schlaf hatte. Kriegt man in meinem Alter nicht mehr als drei Stunden Schlaf, dann kann das mit seniler Bettflucht, schlechten Träumen, Nesselsucht an den Beinen zu tun haben. Oder man ist dabei, etwas einem Ende zuzuführen und will keine Sekunde dabei verpassen. Dass ich diese Gelegenheit bekommen habe, hatte ich bereits am gestrigen Morgen in meinem Wunder-Buch gelesen. Doch das letzte Mal, als es mich auf Wunder aufmerksam machte, erfuhr ich vom Schlaganfall meiner Freundin und hatte mich sehr gewundert, wie man das als magisch auslegen konnte. Als ich also gestern früh wieder einmal darüber las, machte ich mich bereit und war gespannt, was es dieses Mal war, das meine Interpretationsflexibilität bis ins Letzte dehnen würde.
Es war ein Besuch, nicht ganz überraschend und in seiner Konsequenz dann doch. Zu oft hatte sich dieser Mensch schon angesagt und dann doch wieder Gründe gefunden, nicht zu kommen. An Abstrusität waren diese Gründe oft kaum zu übertreffen, doch ich habe vor allem eines daraus gelernt: I cross the bridge when i see it. Und gestern habe ich sie gesehen. Auf zwei Rädern, mit sattem Sound und einer großen Bereitschaft zur Offenheit. Vor zwei Jahren noch wäre dieser Besuch mit allem möglichen überfrachtet gewesen: Hoffnungen, Träumen, Erwartungen, Plänen. Doch dieses Mal nahm ich mit Erstaunen zur Kenntnis, dass mir alles davon fehlte.
Und während ich in einer Geräuschmischkulanz einzuschlafen versucht, die Gewitterstürme mit Meteoriteneinschlägen und Formel Eins-Gedröhne verband, stellte ich fest, dass Hoffnungen, Träume, Erwartungen und Pläne aus einer Angst heraus entstanden waren. Dass ich in Zusammenhang mit diesem Menschen zwar stets von Liebe gesprochen habe, diese Liebe aber erst jetzt fühlen konnte. Nicht jene, die klammert, fordert, wünscht, sondern die, die genießt, was ihr der Moment schenkt. Die plötzlich wahrnimmt, dass jeder Mensch seine Bestimmung hat, die er vielleicht absichtlich gewählt hat, der er aber gerade deshalb auch gerecht werden möchte. Und selbst wenn man als Außenstehender meint, der Blick von außerhalb des Waldes komme zu einer anderen Einsicht, den anderen sein lässt. Und ihn liebt, weil das Herz offen ist - einfach für jeden.
Vor zwei Jahren, als ich bei einem Sufi-Seminar war, lernte ich Rosina kennen und habe sie letztes Jahr wieder getroffen. Wir tauschten uns über das aus, was sich in der Zeit des Nicht-Sehens ereignet hatte und sie sagte mit einem sanften Gesicht: „Weißt Du, ich fühle in mir inzwischen nichts als Liebe.“ Abgesehen, dass sie mir in puncto Freundlichkeit, Würde und Anmut vom ersten Augenblick an ein Vorbild war, dachte ich mir damals: „Dort möchte ich auch hinkommen, in diese Liebe, die nicht mehr interpretiert, weder sich selbst noch andere quält, einfach ist.“
Leicht war er nicht, dieser Weg, und nicht nur einmal haben meine verzweifelten Tränen versucht, mich von diesem Weg wegzuschwemmen. Nachzugeben wäre ein leichtes gewesen, denn nichts ist vertrauter (und verlockender) wie Muster, die man schon sein Leben lang kennt. Doch mein Drang, stets zur Wurzel von allem vorzudringen, hat mich nicht ruhen lassen, mich ausgetrocknet und umgetrieben. Habe ich alles verstanden, was mir passiert ist auf diesem Weg? Gott, nein. Doch während ich gestern Nacht eine um die andere Schafherde durchzählte, stellte ich fest, dass alles genau so sein musste, weil ich es anders einfach nicht geschafft hätte. Ich halte nichts von Verdrängung, nichts von Kompensation. Von Wahrhaftigkeit hingegen sehr viel. Und die Wahrhaftigkeit dieser allumfassenden Liebe, mit der ich ins neue Lebensjahr gehe, ist das allerschönste Geschenk.