Was passiert eigentlich bei Stress? Teil 6 – Angemessen auf Stress reagieren.
In Teil 5 dieser Serie über Stress habe ich darüber geschrieben, wie sehr Stresssituationen uns emotionalisieren und wie sehr unsere Reaktionen in einer solchen Konfliktsituation damit aufgeladen ist, was wir in unserer Vergangenheit an emotionalen Erfahrungen erworben haben.Je länger man sich mit diesen Zusammenhängen beschäftigt, desto mehr wird klar, dass es in der Tiefe gar nicht die Situationen sind, die uns stressen, sondern unser Umgang mit ihnen. Sprich, die Haltung, mit der wir ihnen begegnen. Jetzt kann man sich jedoch seine Haltungen im Leben nicht einfach aussuchen, und man kann sich auch von seiner eigenen Geschichte und Persönlichkeit nicht so einfach lösen.
Daher bietet die Achtsamkeit ein universelles Prinzip des Zu-sich-Kommens, das beinhaltet, dass man emotional getriggert wird. Denn das ist für jeden von uns unausweichlich. Doch wie man dann weiter verfährt, ist eine Frage der bewussten Entscheidung, wenn mir bewusst wird, wie wenig Konstruktives in der automatischen, emotionalisierten Stressreaktion zu finden ist – und wie sehr sie die Beziehung unterbricht.
Hier also in acht Schritten, wie die achtsame Wahrnehmung in stressigen Situationen wirkt:
1. Wahrnehmen, dass ich Stress habe
Insbesondere der achtwöchige MBSR-Kurs (Stressreduktion auf der Basis von Achtsamkeit) legt anfangs besonderen Wert darauf, die Wahrnehmung für den Körper zu sensibilisieren. Denn nehmen wir unseren Körper bewusst wahr, lernen wir, sehr gut zu erkennen, wann wir Stress haben. Stress ist immer mit Anspannung im Körper verbunden. Beziehung ist immer mit Entspannung im Körper verbunden.
Erst nach vier Wochen kommt der Kurs wirklich dazu, die eigene Reaktion in Stresssituationen zu verändern. Denn bis dahin ist die Fähigkeit, über den Körper Stress bewusst wahrzunehmen, stark gewachsen.
Die wichtigste Fähigkeit, anders mit Stress umzugehen, besteht darin, bewusst wahrzunehmen, dass ich Stress habe. Das ist gar nicht so leicht, wenn ich emotionalisiert bin und nicht mehr klar denken kann. Daher ist unser Körper ein so wichtiger Signalgeber dafür, dass uns unser Stress bewusst auffallen kann.
Wenn ich in der Situation bewusst wahrnehmen kann, dass ich Stress habe, folgt Schritt zwei.
2. Innehalten
Innehalten heißt, seine eigene Wut, Ohnmacht, Scham oder ein anderes Gefühl, das gerade dominant ist, zwar wahrzunehmen, aber nicht gleich aus dem Gefühl heraus zu handeln.
Stattdessen ist Schritt zwei innezuhalten und nichts zu tun. Es folgt Schritt drei.
3. Auf den eigenen Atem fokussieren
Warum ist das eine gute Idee?
Sich auf den eigenen Atem zu fokussieren, hat aus mehreren Gründen große Vorteile. Zum einen beruhigt es ganz einfach. Wenn ich mich auf meinen Atem konzentriere, ohne ihn anders haben zu wollen, als er gerade ist, werde ich automatisch ruhiger. Dieser Effekt stellt sich ganz von alleine ein – ohne dass ich dafür bewusst meinen Atem beruhigen muss.
Durch den Effekt tritt im Körper Entspannung auf – ich kann wieder freier atmen und komme zu mir. Das heißt, neben dem dominanten Gefühl tauchen auch wieder andere Gefühle auf, die ebenso Wesentliches zur Situation beitragen können, und ich selbst kann wieder klarer denken.
Es passiert noch etwas anderes bei diesem Prozess. Unsere bewusste Aufmerksamkeit kann immer nur an einem Ort sein. Von allem anderen ist sie überfordert. So ist die bewusste Entscheidung, sich auf den eigenen Atem zu konzentrieren und tatsächlich zu sich zu kommen, auch eine Entscheidung, die den Kontakt zu dem, was mich in dem Moment stresst und mir Angst macht, unterbricht.
Das heißt, solange ich zu mir komme, spüre ich den äußeren Stress nicht.
4. Auf Anspannungen und Körperhaltung achten
Gefühle werden im Körper über Anspannungs- und Entspannungszustände erzeugt. Diese Anspannungszustände bringen uns in eine bestimmte Haltung. Und in dieser Haltung sind uns nur noch bestimmte Gefühle zugänglich.
Achten wir bewusst auf unsere Haltung und unsere Anspannungszustände, können wir in der Situation bewusst Anspannung aus dem Körper entlassen und darauf achten, in eine Körperhaltung zu kommen, die im Yoga als Berghaltung bezeichnet wird. In dieser aufgerichteten und zugleich entspannten Haltung sind wir optimal im körperlichen Gleichgewicht.
Unsere Körperhaltung entspricht eins zu eins unserer psychischen Haltung. Das heißt, wenn wir bewusst in diese Haltung gehen, kommen wir auch psychisch ins Gleichgewicht.
Ich kann mich dagegen gar nicht wehren. Es passiert von alleine.
Diese Haltung ist damit verbunden, dass ich mich weder kleiner noch größer mache, als ich bin. Ich habe in der Haltung eine Grenze, bin mit mir gut in Kontakt und kann auch mit meinem Gegenüber gut in Kontakt sein.
Diese körperliche Haltung signalisiert unserem Gegenüber sofort, dass wir ihm gegenüber nicht feindlich eingestellt sind, und entspannt auch ihn.
Sprich, diese Haltung ist optimal dafür, um in Beziehung zueinander zu kommen.
5. Das eigene Gefühl als wichtig anerkennen
Die Haltung der Achtsamkeit ist immer annehmend. Das gilt für die Realität der Situation, in der ich bin, genauso wie für meine eigenen Gefühle. Was auch immer ich fühle, ist okay und darf sein. So auch das dominante Gefühl, dass ursprünglich in der Stressreaktion so schnell entstanden ist.
Dieses Gefühl ist wichtig – ein wertvoller Hinweis, dass ich mich mit der Situation nicht wohlfühle. Es ist wichtig, sich für dieses Gefühl nicht selbst zu verurteilen.
Die Idee der Achtsamkeit beruht immer auf einem inneren Gleichgewicht. Wenn ein Gefühl so dominant ist, bin ich nicht mehr im Gleichgewicht. Wenn meine anderen Gefühle wieder hinzukommen, ist das starke Gefühl, das ich hatte, ein ganz wichtiger Teil meiner Wahrnehmung. Es ist jetzt nur nicht mehr so dominant. Das Gefühl sagt, dass ein Bedürfnis von mir verletzt wurde. Der folgende Prozess hilft dabei, mit meinem verletzten Bedürfnis in Kontakt zu kommen.
6. Die Aufmerksamkeit wieder ausweiten
Jetzt bin ich also so weit, dass ich meine Aufmerksamkeit wieder ausweiten kann – über mich hinaus zu meinem Gegenüber. Ich bin jetzt in einem Modus, in dem ich wieder sinnvoll und mit allen Sinnen präsent und beziehungsfähig bin.
Die interessante Frage ist natürlich, wie lange der oben beschriebene Prozess dauert und was in der Zeit mein Gegenüber macht. Ich kann ja nicht einfach sagen: „Einen Augenblick bitte, ich muss kurz zu mir kommen", und mich fünf Minuten später wieder melden.
Ist dieser Prozess einmal eingeübt, geht es erstaunlich schnell, zu sich zu kommen. Interessanterweise hat diese in Konfliktsituationen ungewöhnliche Reaktion oft zur Folge, dass der andere auch zu sich kommt – weil es auch hier eine Übertragung gibt.
Man verschwindet während der Zeit nicht ganz. Ein Teil bleibt in der Situation anwesend. Und während der andere redet, kann man das für sich ganz unbemerkt machen. Ist man geübt darin, ist es ein Prozess von ein paar Sekunden.
7. Zuhören und sein mit dem, was ist, ohne gleich emotional zu reagieren
Ich kann jetzt zuhören, ohne gleich meinem ursprünglich dominanten Gefühl entsprechend zu handeln. Es geht darum zuzuhören mit dem Willen, den anderen verstehen zu wollen. Gelingt das, entspannt sich auch in meinem Gegenüber etwas. Er merkt, dass er gehört wird – und das reduziert Stress.
Gleichzeitig erhöht es bei meinem Gegenüber den Willen, auch meine Seite zu hören und zu verstehen. Wer sich verstanden fühlt, ist gern gewillt, den anderen ebenfalls zu verstehen.
8. Aus der Gesamtheit von Gefühl, Verstand und Körpergefühl antworten
So kann ich lernen, im Konflikt den anderen zu verstehen und zu achten. Ich kann lernen, wie sich die Welt aus der Sicht des anderen anfühlt, und nachfragen, wenn ich etwas nicht verstehe.
Wenn ich gleichzeitig darauf achten kann, was das in mir auslöst – meine eigene Reaktion, meine eigene Welt, meine eigenen Bedürfnisse genauso wichtig nehmen kann wie die meines Gegenübers, dann bin ich auch hier im Gleichgewicht. Beziehung heißt auf dieser Ebene, mich selber genauso wichtig zu nehmen wie mein Gegenüber.
Nicht wichtiger und nicht weniger wichtig.
Übung macht den Meister
Diese Zusammenhänge zu verstehen, hilft ungemein. Doch rein über das Verstehen lassen sich diese Punkte nicht umsetzen. Man scheitert dann schon daran, in der entsprechenden Situation gar nicht erst zu merken, dass man gestresst ist, weil man schon in seiner emotionalen Reaktion ist und handelt, bevor sich das Hirn eingeschaltet hat.
Der 8-Wochen-MBSR-Kurs, in dem man diese Vorgänge einübt, dauert nicht umsonst acht Wochen lang. Es geht bei diesen Vorgängen darum, tief sitzende Gewohnheiten zu ändern und seine Wahrnehmung zu schulen. Daher ist der MBSR-Kurs auch grundsätzlich auf Übungen zur Selbsterfahrung aufgebaut.
Wenn man an diesem Kurs teilnimmt, hat man damit die Grundlage geschaffen, eigenständig in der Praxis der Achtsamkeit bleiben zu können und die eigenen Erfahrungen zu vertiefen.
Vorausschau
Dieser Teil der Reihe hat sich mit der unmittelbaren Reaktion in stressigen Situationen beschäftigt. Das alleine hilft, Stress im Alltag dort zu reduzieren, wo er auftritt.
Darüber hinaus gibt es aber noch viele andere Möglichkeiten, um Stress zu reduzieren, die alle Teil eines achtsamen Lebens sein können.
Diesem Thema widmet sich der kommende und letzte Beitrag in der Serie „Was passiert eigentlich bei Stress?“
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