Bezug nehmend auf die ganz unterschiedlichen Vorlieben und Bedürfnisse, die ein Mensch hat, wie z. B. ich liebe die Stadt, ich liebe das Land. Was ist das Richtige für mich? Und – muss ich mich überhaupt entscheiden?
MoonHee beantwortet hier Fragen des alltäglichen Lebens oder Fragen, die ihr schon immer einmal stellen wolltet. In ihrem ersten Beitrag „Wie geht es dir heute? Danke, gut!“ findet ihr mehr Informationen dazu.
Antwort MoonHee:
Das Herz ist eins, der Kopf ist zwei. Unterscheidungen und Trennungen entsprechen nicht der Wirklichkeit, sondern sind mentale Projektionen eines materialistisch-dualistischen Weltbildes. In unseren Vorstellungen nehmen wir die Welt, die Dinge in ihr und uns selbst als isolierte und getrennte Dinge wahr. Der einen Sache steht eine andere gegenüber. Unser Leben ist davon bestimmt, das eine gegen das andere abzuwägen. Einer der Hauptgründe des menschlichen Leidens liegt im Vergleichen und in dem damit einhergehenden Gefühl des Mangels. Die daraus resultierenden Gefühle, wie innere Zerrissenheit, Verzweiflung und Unsicherheit, sind uns Menschen allzu gut bekannt.
Die Wirklichkeit ist aber keine individuelle, mentale Konstruktion, sondern ist, wie sie ist! Das natürliche So-Sein kennt weder Unterschiede noch Trennungen. Trotz Vielfalt und Verschiedenheit gibt es in Wirklichkeit nur Einheit – denn Verschiedenheit bedeutet nicht Unterschiedenheit. Zweiheit ist kein natürlicher Zustand, sondern wird vom menschlichen Geist künstlich erzeugt. Alle Zerrissenheit und Unversöhnung entspringen dem Denken. Denn jenseits des Denkens existiert kein anderes; und wo kein anderes ist, gibt es auch keine Unterschiede.
Denken erzeugt Leid – weil Denken trennt und mit Bewertungen und Anhaftungen verbunden ist. Dem Denker steht das Gedachte gegenüber. Ganz gleich, wie positiv das Gedachte auch sein mag, im Denken sind wir mindestens zwei. Deshalb kann das eine auch nicht gedacht, sondern nur erfahren werden. Sobald wir eins denken, sind wir nicht eins, sondern zwei.
Einheit, Versöhnung und Frieden müssen nicht erreicht werden. Sie sind natürliche Zustände des Nichtdenkens. Denn im Nichtdenken existieren keine Gegensätze, Widersprüche oder Begrenzungen. Aber aufgepasst: Nichtdenken bedeutet nicht die krampfhafte Vermeidung von Gedanken, Nichtdenken bedeutet das Loslassen von Anhaftungen an diesem oder jenem. Das Denken wird im Nichtdenken nicht negiert, sondern geht in ein größeres Allumfassendes auf. „Das ist gut, das ist schlecht, das ist besser, das ist schlechter“ gibt es nicht mehr. Das, was zählt, ist der gegenwärtige Augenblick. Jetzt bin ich hier in der Natur; ich genieße die Ruhe, die Berge und das Schwimmen im See. In einem anderen Augenblick erfreue ich mich der Menschen, des Austauschs mit ihnen und des Treibens der Stadt. Nichtdenken ist also absolute Gegenwärtigkeit. Hier gibt es kein Vergleichen, kein Früher oder Später, kein Höher oder Niedriger. Alles ist, wie es JETZT gerade IST! In der völligen Annahme des gegenwärtigen Moments erleben wir die Fülle des Seins, der jedoch die Leere vorausgeht. Nur indem wir frei von Anhaftungen sind, also leer im gegenwärtigen Sein aufgehen, können wir das Leben wahrhaftig erfahren und genießen. Denn sind wir nicht hier, sondern dort, dann sind wir überhaupt nicht.
Leben geschieht im Hier und Jetzt. Im Aufgehen im gegenwärtigen Moment gibt es kein Wenn und kein Aber: Wir sind – ohne Trennung – eins mit dem, was wir gerade tun. Wir sind die Natur, die Ruhe, der Berg, der See, das Schwimmen selbst. In der Hingabe des Augenblicks erfährt das individuelle Ich seine Erweiterung zum universellen Selbst: Ich erblicke mich überall selbst – ohne jedoch Ich, überall und Selbst zu denken. Nichtdenken als gegenwärtiger Augenblick ist Stille des Geistes. Wahre Stille ist nicht die Abwesenheit von Geräuschen, sondern die Anwesenheit meines wahren Selbst. Sehr schön schreibt Else Pannek: „Hingabe an den Augenblick wirkt wie Zuwendung zu sich selbst.“
Möchten wir also Herz sein und nicht Kopf, so müssen wir von aller Zweiheit ablassen. Nur jenseits aller Trennungen sind wir wirklich bzw. sind wir wir selbst. Im Shinjin-Mei, Verse über den Glaubensgeist, lesen wir:
„Der höchste WEG ist nicht schwer,
wenn du nur aufhörst zu wählen.
Wo weder Liebe noch Hass,
ist alles offen und klar.
Doch die kleinste Unterscheidung
trennt Himmel und Erde in zwei.
Soll ES sich dir offenbaren,
lass Abneigung wie Vorliebe beiseite.
Der Konflikt zwischen Neigung und Abneigung
ist nichts als eine Krankheit des Geistes.
Verstehst du diese tiefe Wahrheit nicht,
versuchst du vergeblich, deine Gedanken zu beruhigen.
[...]
Du brauchst nicht nach der Wahrheit zu suchen.
Lass alle deine Meinungen fahren!
Zwiespältigkeit halte nicht fest!
Sei achtsam und folge ihr nicht!
Auch nur eine Spur von ,richtig‘ und ,falsch‘,
und der Geist ist in Wirren verloren.
Weil es das EINE gibt, existieren die Zwei;
doch halte auch nicht fest an dem EINEN.
[...]
,Gewinnen‘ und ,verlieren‘, ,richtig‘ und ,falsch‘ -
lass sie ein für alle Mal ziehen!
[...]
In der Dharma-Welt des SOSEINS
ist kein ,anderes‘ und kein ,Ich‘.
Sollst du diese Angelegenheit sofort erklären,
kannst du nur sagen: ,Nicht-Zwei‘.
Im NICHT-ZWEI ist alles gleich,
nichts, was es nicht umfasst.“[1]
Weitere Fragen & Antworten von MoonHee Fischer finden Sie hier.
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Bilder Teaser und Text© Pexel
Bild Header © Sigurd Döppel
[1] Shinjin Mei, Verse über den Glaubensgeist von Seng-t`san, Übersetzung von Dr. Günther Endres