Bahnsteig der U4-Station Wien, Margareten. Eine alte Frau trippelt vorsichtig den Bahnsteig entlang, den Kopf gesenkt. Eine junge Frau überholt sie schnell. Den Kopf ebenfalls gesenkt, auf ihr Smartphone schauend und in großer Geschwindigkeit mit beiden Daumen auf die Tasten tippend.
Ein Mann mit einem Tattoo lehnt lässig an der Wand. Eine andere Frau mit Einkaufstasche versucht, umständlich ihre FFP2-Maske überzustreifen. Lärmend stürmen kleine Kinder vom unteren Ende des Bahnsteigs heran. Auf der gegenüberliegenden Seite steht ein Mann vor einem Plakat, liest die Ankündigung eines Konzerts. Zwei Männer mit kahl rasierten Köpfen rauchen, einer wirft die Kippe auf die Gleise. Eine Gruppe Jungs kommt sich laut unterhaltend die Treppe herunter. Die Berufsschule ist aus – die Freude und Erleichterung darüber drücken sie lautstark aus. Gegenüber fährt die U-Bahn ein. Türen gehen auf. Auf dieser Seite noch eine Minute, bis der nächste Zug kommt. Der Luftzug des herannahenden Zugs ist zu spüren. Klappernd kommt eine Frau mit hohen Absätzen die Treppe hastig herunter, bemüht sich, nicht zu stürzen. Der Zug ist da, sie erreicht ihn gerade noch. „Bitte nicht mehr einsteigen.“
All dies geschieht innerhalb von 30 Sekunden.
Was dies mit Zen zu tun hat? Alles oder auch nichts. Man kann das Geschehen betrachten, als sähe man durch ein Guckloch auf die Welt da draußen. Man macht sich seine Gedanken und ist erfüllt von Gefühlen und Empfindungen. Man kann sich jedoch auch als Teil der Welt erleben. Ich und das Geschehen sind nicht dasselbe, aber auch nicht voneinander getrennt.
In den Lehrreden Buddhas spricht Buddha über das „Bedingte Entstehen“ bzw. das „Entstehen aus Abhängigkeit“ (Pali Kanon, Übersetzung K. E. Neumann, Großes Buch, 2. Teil, 2. Rede, S. 217). Nagarjuna vertieft diesen Gedanken in seiner „Lehrrede von der Mitte“ (Meiner Verlag). Der zentrale Satz im Shin Jin Mei von Meister Sosan ist uns allen bekannt: „Der höchste Weg ist gar nicht schwer, nur ohne Neigung und ohne Abneigung (wählerischer Wahl), dort ist Klarheit, offen, wolkenlos.“ (auch 2. Beispiel Bi-Yän-Lu)
Nichts besteht für alle Zeit fest und substanziell, daher haben die Dinge kein festes überdauerndes Sein, sondern alles ist abhängig von Bedingungen. Lösen sich die Bedingungen auf, lösen sich die Dinge auf, wie sie waren. Das wird als Leerheit bezeichnet.
Die Welt so zu erleben, ist ungemein befreiend und beglückend, frei von Zuschreibungen und den damit verbundenen inneren Zuständen. Es ermöglicht, die Welt zu sehen, wie sie ist und sich der einem jeweils gegebenen Situation zu stellen. Zu den Katastrophen gibt es einen anderen Zugang. Frei nach Ryokan (1758–1831): „Wenn eine Katastrophe da ist, ist man ein Teil dieser Katastrophe. Man tut das der Situation Entsprechende. Ist sie nicht da, aber sie droht, tut man das dieser Situation Entsprechende.“
In diesen 30 Sekunden auf dem Bahnsteig geschah alles mehr oder weniger gleichzeitig, durcheinander – aber nicht getrennt. Der Zug kam, und die Bedingungen lösten sich auf und gingen in andere über. Ich selbst ein Teil dieser Bahnsteigwelt, dann der Zugwelt. „Nicht mehr einsteigen!“ dann: „Nächster Halt …“