Für viele Menschen ist ihre Arbeit Quelle für Ärger und Unsicherheit. Selbst diejenigen, die ihren Beruf lieben, leiden zunehmend unter Zeitnot, restriktiven Vorschriften, Konkurrenzdruck, mangelnder Wertschätzung und fehlender Orientierung.
Wir Menschen sind evolutionär so geprägt, dass wir auf Unsicherheit und Ärger mit hoher Aktivität reagieren. Bei Verunsicherung, man könnte auch verschärft sagen, bei Bedrohung, gehen Mensch und Tier instinktiv auf Abwehr und reagieren mit Flucht oder Angriff. Dafür wird viel Energie im Organismus bereitgestellt. Wenn es ums nackte Überleben geht, ist das auch sinnvoll: Ein Reh wird beim Anblick eines Wolfes umgehend mit Energie vollgepumpt. Explosionsartig setzt es diese in effektives Handeln um. Nach erfolgreicher Flucht grast das Reh ruhig weiter und vergisst den Wolf. Dieses evolutionäre Verhaltensmuster, das uns Menschen immer noch zu eigen ist, hat im modernen Arbeitsdschungel gravierende Nachteile. Während sich ein Reh nur gelegentlich vor einem Wolf in Sicherheit bringen muss, scheinen im Berufsalltag ständig und überall Gefahren zu lauern. Wir müssen gegen Fristen, Budgets und Zielvereinbarungen kämpfen, uns gegen unzufriedene Kunden, hartnäckige Konkurrenten, eine chaotische Führung oder fehlende Wertschätzung zur Wehr setzen. Auf unseren Organismus wirkt das, als wären wir von einem ganzen Rudel Wölfe umzingelt – entsprechend reagiert er mit Stress. Neben zahlreichen gesundheitlichen Gefahren wirkt sich dieser Dauerstress auch negativ auf unsere mentalen und sozialen Fähigkeiten aus: Im Kampf-Flucht-Modus entwickeln wir einen Tunnelblick. Alles verengt sich auf die Gefahrenquelle. Während wir versuchen, die Probleme in den Griff zu bekommen, wir uns immer mehr anstrengen, intensiver nachdenken, härter arbeiten, nutzen wir unser einzigartiges menschliches Potenzial immer weniger. Statt mit unseren menschlichen Fähigkeiten brillante Lösungen für komplexe Probleme zu finden, werden wir unbemerkt zum Tier, beißen uns durch, schlagen zu und verkriechen uns.
Im Stressdschungel sehen wir den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr, sind weder zugewandt noch offen und schon gar nicht kreativ. Statt zu kooperieren, schotten wir uns ab. Wo wir mit Weitblick und Zuversicht agieren sollten, neigen wir zu Misstrauen, Kontrolle und Schwarzseherei. Zwar gehört es zu unserer biologischen Konstitution, dass Veränderungen immer auch ein bisschen verunsichern. Je stärker wir aber auf Unsicherheit mit Angst oder Ärger reagieren, desto primitiver und unfruchtbarer wird unser Denken und Handeln. Das hilft uns weder, zufrieden zu sein, noch förderliche Antworten auf die Herausforderungen einer immer unbeständiger werdenden Arbeitswelt zu finden. Es wäre sehr viel effizienter, wenn mehr Menschen auch unter Druck gelassen, konzentriert, freundlich und mitfühlend bleiben würden, um klar zu erfassen, was im wörtlichen Sinne notwendig ist. Not – unabhängig davon, ob es sich um Zeitnot in einem Projekt, wirtschaftliche Not in einem Unternehmen oder um gesundheitliche Not von Mitarbeitern, Kunden oder Umwelt handelt –, Not kann nur gewendet werden, wenn sich die Verantwortlichen 1. auf das Wesentliche konzentrieren, 2. die Ursachen der Not erkennen und 3. beherzt handeln. Im heutigen Berufsleben hapert es oft schon am ersten der drei Schritte: Konzentration. Permanent werden wir aus ihr herausgerissen, sei es durch Kollegen, Anrufe, E-Mails oder durch unsere eigenen fahrigen Gedanken, die hierhin und dorthin springen. Entspannt und aufmerksam bei einer Sache zu bleiben fällt vielen schwer. Entweder sind sie verbissen und kämpfen, statt gelassen zu sein. Oder sie sind abgelenkt, vergeuden dabei Zeit und Energie und neigen zu Fehlern. Studien haben gezeigt, dass Menschen, die mental nicht bei dem sind, was sie gerade tun, insgesamt unzufriedener sind. Das heißt im Umkehrschluss, dass Multitasking Gift ist. Der Versuch, viele Dinge gleichzeitig zu tun oder zu denken, führt zu Stress und schlechten Ergebnissen. Trotz besseren Wissens können es die meisten Menschen aber nicht abstellen, denn Multitasking macht süchtig. Forscher haben entdeckt, dass durch Multitasking im Gehirn Dopamin ausgeschüttet wird. Dopamin ist ein Neurotransmitter, der bei Suchtverhalten eine entscheidende Rolle spielt, da sich im Moment seiner Ausschüttung ein Gefühl von Vergnügen und Befriedigung einstellt und ein unmittelbares Verlangen nach dem nächsten Kick weckt. Wenn wir zum Beispiel einen Artikel lesen und kurz unterbrechen, um zu checken, was in unseren E-Mails, auf Facebook, Twitter oder Instagram los ist, wird – falls wir auf eine Botschaft für uns stoßen – Dopamin ausgeschüttet. Unabhängig von den tatsächlichen Inhalten der Nachricht führt der bloße Gedanke „Ah, da ist ja was“ in Bruchteilen von Sekunden zu einem Dopaminausstoß. Ohne dass uns die Zusammenhänge bewusst werden, empfinden wir in immer kürzeren Abständen ein Verlangen danach, in den verschiedenen Kanälen nach Botschaften für uns zu suchen, mit der Folge, dass wir unser Tun immer häufiger unterbrechen und auf die Suche gehen. Je öfter unser Tun und unsere Konzentration aber unterbrochen werden, desto mehr wird unser Gehirn darin trainiert, abgelenkt und zerstreut zu sein.
Der erste Schritt zu gelassener Konzentration ist, jede Art von Multitasking zu vermeiden.
Der erste Schritt zu gelassener Konzentration ist daher, jede Art von Multitasking zu vermeiden. Stellen Sie Benachrichtigungsfunktionen an digitalen Geräten ab und planen Sie spezielle Zeitfenster, um Botschaften zu lesen und zu beantworten. Bleiben Sie auch in Besprechungen präsent und aufmerksam. Formale Achtsamkeitsübungen wie die Betrachtung des eigenen Atems stärken Ihre Fähigkeit, konzentriert bei einer Sache zu bleiben. Doch anders als oft dargestellt ist eine fundierte Achtsamkeitsschulung weit mehr als nur Entspannungs- und Fokustraining. Wesentlicher Bestandteil ist auch die Kultivierung eines klaren, erkennenden Geistes. Achtsamkeit bringt die notwendige mentale Klarheit, um den Ursachen von Schwierigkeiten auf den Grund zu gehen, größere Zusammenhänge zu erkennen, über den eigenen Tellerrand hinaus zu schauen und multiperspektivisch nach tragfähigen Lösungen zu suchen. In einer globalisierten Welt, in der Menschen, Märkte und Umwelt aufs Engste miteinander verzahnt und voneinander abhängig sind, brauchen insbesondere Führungskräfte diesen klaren Geist, wenn sie langfristig erfolgreich wirken wollen.
Je stärker wir auf Unsicherheit mit Angst oder Ärger reagieren, desto primitiver und unfruchtbarer wird unser Denken und Handeln.
Die dritte Komponente eines sachkundigen und authentischen Achtsamkeitstrainings ist die Herzensbildung. Wenn wir uns persönlichen, technischen, wirtschaftlichen oder politischen Nöten zuwenden und uns aus Stress, Ärger und geistiger Enge lösen wollen, ist das beste Mittel ein offenes, freundliches Gemüt. Seit Jahren scheint es aber zum vermeintlich guten Ton der Arbeitswelt zu gehören, sich viel und heftig zu ärgern. Ärger wird zum Gradmesser für Anspruch und Ehrgeiz gemacht und fälschlicherweise mit viel Engagement gleichgesetzt. Dass uns unter Ärger die Dinge aber schwerer von der Hand gehen, wir weniger Unterstützung finden, wenn wir genervt, ungeduldig, missmutig sind, wir selten über uns hinauswachsen, hervorragende Einfälle, Freude und Erfolgserlebnisse haben, macht deutlich, dass eine Ärgerkultur überhaupt nicht produktiv ist.
Dieser Artikel erschien in der Ursache\Wirkung №. 98: „Gelassenheit und wir wie sie erreichen"
Im Gegenteil – im ärgerlichen Zustand ziehen sich nicht nur Stirn, Nacken und Darm zusammen, wir werden auch mental eng: skeptisch, ängstlich, kontrollwütig, einsam. Im zusammengezogenen Zustand kann sich nichts entfalten, keine Kreativität, kein Potenzial, keine Kraft. Wenn wir etwas Gutes bewirken wollen, müssen wir unsere Fähigkeiten ausbauen, auch in schwierigen Situationen die Übersicht zu behalten, offen, kreativ und menschlich zu agieren. Aus diesem Grunde ist die Achtsamkeitspraxis, also die gezielte Schulung eines entspannten, wohlwollenden und klaren Geistes, kein Privatvergnügen, sondern sollte ihren adäquaten Platz in Personal- und Organisationsentwicklung haben.
Anja Siepmann, Gelassen arbeiten. Wie Achtsamkeit den Berufsalltag erleichtert. Scorpio, 2016
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