Achtsamkeit ist reines Gewahrsein als psychische Fertigkeit unseres Geistes, der sowohl als ‚Denkapparat' als auch als ‚Beobachter' funktionieren kann. Ein Gewahrsein, das durch Flexibilität, Offenheit und Neugier gekennzeichnet ist. Wie passen Sexualität und Achtsamkeit zusammen?
Achtsamkeit ist die wertfreie, liebevolle Wahrnehmung dessen, was gerade ist. Achtsamkeit ist Präsenz im Hier und Jetzt statt im Dort und Damals, sie ist der ‚Schlüssel' dafür, mehr im Kontakt mit dem jetzigen Moment zu sein. Das bedeutet, physisch und psychisch in der jeweiligen Situation mit größtmöglicher Präsenz da zu sein.
Achtsamkeit ist die wertfreie, liebevolle Wahrnehmung dessen, was gerade ist.
Achtsamen Sex zu haben bedeutet erst einmal einfach nur, dass wir wirklich spüren, was gerade in unserem Körper (Geist und Seele) passiert, ohne es in irgendeiner Form zu werten, was leider geschieht, weil unser Körper eben nicht so ‚funktioniert', wie wir es gerne hätten. In einer zweiten Phase bedeutet es aber auch, Schritte zu unternehmen, die die Situation verändern könnten. Achtsamkeit schult unsere Wahrnehmung, wir lernen dadurch, differenziert zu beobachten und im Moment zu sein. Die beobachtende Position schafft eine innere Distanz, die uns die Zeit schenkt, die komplette Fusion mit dem Gefühl oder den Gedanken aufzulockern beziehungsweise das Vermeidungsverhalten zu erkennen, entsprechend Handlungen bewusst vorzunehmen und nicht im Autopilot zu agieren. Achtsamkeit schenkt uns die Freiheit, die zwischen Reiz und Reaktion liegt. Das ist aber noch nicht alles. In der Entschleunigung innerer Prozesse liegt ein weiterer Schlüssel – und eine Chance. In Verbindung mit Sexualität hält Achtsamkeit ein weiteres Geschenk bereit. Nämlich die Möglichkeit, auch aktiv etwas zu verändern. Achtsamkeit ist nicht einfach passive Hingabe und Akzeptanz, sondern ein innerer Zustand höchst gelassener Wachsamkeit, die uns erlaubt, in jeder Situation die richtige Entscheidung zu treffen, was bedeuten kann, mal die Dinge so zu lassen, wie sie sind, mal aber etwas daran zu ändern, weil sie verändert werden können. Diese Haltung kann sehr hilfreich sein, vor allem, wenn Probleme in der Sexualität auftauchen. Dazu – nach einem kurzen Exkurs – ein konkretes Beispiel. Sexualität ist ein hochkomplexes Phänomen, das verschiedene Ebenen des Menschseins berührt und durchdringt: körperliche, mentale, emotionale Aspekte, die Beziehungsebene zum Partner und allumfassend die spirituelle Dimension der menschlichen Existenz. Sexualität ist ein Kontinuum an Wünschen und Bedürfnissen nach Nähe und Geborgenheit, Erregung und Lust, Selbstbestätigung, Zugehörigkeit und Angenommenwerden. Gleichzeitig ist Sexualität ein kontinuierlicher Lernprozess, der sich das ganze Leben lang entfaltet. Ausgehend von einem angeborenen reflektorischen Prozess (dem sogenannten Erregungsreflex) lernen wir im Laufe des Lebens, damit umzugehen. So entdecken und entfalten wir unser erotisches Potenzial, erst einmal bei uns selbst in der Autoerotik, später mit einem Gegenüber in der erwachsenen Sexualität. In diesem Lernprozess können Lernschritte versäumt oder eingeschränkt durchlebt werden, woraus im späteren Leben Probleme in der Sexualität entstehen können. Die gute Nachricht ist: Dank der Neuroplastizität unseres Gehirns ist es nie zu spät, etwas Neues zu entdecken und dazuzulernen, wenig förderliche Verhaltensweisen abzulegen und neue Verhaltensweisen zu übernehmen. Wenn wir nun Sexualität – auch – als ‚Lernprozess' sehen, können wir über achtsame Wahrnehmung das aufspüren, was einer erfüllteren Sexualität vielleicht im Wege steht: zu lernen, mit bestimmten Aspekten Frieden zu schließen, andere wiederum zu verändern.
Achtsamkeit schenkt uns die Freiheit, die zwischen Reiz und Reaktion liegt.
Bei den meisten Problemen in der Sexualität findet sich eine Einschränkung auf der körperlichen Ebene in dem Sexualisierungsprozess dieses Menschen. Das bedeutet, dass bestimmte Lernschritte zur Aneignung des vollen sexuellen Potenzials nur begrenzt erfolgt sind. In etwa so, als wollte ein Mensch, der noch nicht gelernt hat zu laufen, einen Tanzkurs besuchen. Wenn wir im sexuellen Umgang mit uns selbst nicht gelernt haben, das volle Potenzial zu entfalten, werden wir höchstwahrscheinlich später mit dem Partner einen ‚eingeschränkten' Modus haben, der unweigerlich zu Problemen in der sexuellen Beziehung führen wird.
Wichtig ist hier zu verstehen, dass Achtsamkeit ein essenzielles Instrument darstellt, um Dinge zu akzeptieren, die nicht verändert werden können, aber eben auch, um zu erkennen, dass Lernschritte nachgeholt werden könnten, wenn dies der Fall sein sollte. Sexualität als Ausdruck von Berührung in Achtsamkeit, das heißt, in der wertfreien liebevollen Wahrnehmung und Akzeptanz all dessen, was bei uns und beim Partner gerade ist, ist eine hohe Kunst, die ich als sinnliche Meditation beschreiben möchte. Die Verehrung des ganzen Menschen mit all seinen Gefühlen, Empfindungen und seiner Einzigartigkeit, die über achtsame Berührungen erlebt werden kann, ermöglicht eine tiefe sinnliche Verbindung zum Partner, die den Weg zu intensiven Liebes- und Lustgefühlen öffnet. Und noch mehr! Diese Art der Berührung durch ein uns liebevoll und achtsam zugewandtes Gegenüber ist in der Lage, Räume in uns zu öffnen, die sinnlich-spirituelle Erfahrungen ermöglichen, indem der Mensch das Gefühl hat, etwas zu erleben, das all seine bisherigen sinnlichen Erfahrungen übersteigt. Die eigene göttliche, schöpferische Kraft und Essenz wird in ihrer ganzen überwältigenden Präsenz spürbar und prägt sich unvergesslich unserem Bewusstsein ein.
Sexualität ist die Quelle des Lebens und somit das ‚Göttliche' par excellence.
Sexualität in Achtsamkeit ist eine große Ressource, die als ‚Kraftquelle' eingesetzt werden kann, um mit den unvermeidlichen Herausforderungen des Alltags besser klarzukommen. Befriedigende und erfüllte Sexualität, bei der eine natürliche Steigerung der Erregung stattfindet, die sich wohltuend in einen Orgasmus entladen kann, bewirkt eine tiefe körperliche Entspannung, die das ganze System regeneriert. Gleichzeitig werden Glückshormone ausgeschüttet, die für Bindung und Harmonie sorgen. Ja, achtsame, lustvoll gelebte Sexualität hilft auf jeden Fall, den alltäglichen Stress abzubauen und ihn besser zu regulieren!
Übungsbeispiel: Die Wahrnehmung des Beckens
Eine grundsätzliche Übung besteht in der bewussten Wahrnehmung der Beckenregion. Als Einstimmung können wir mit einem meditativen Bodyscan anfangen, bei dem wir den ganzen Körper in Stille von innen über verschiedene Sinnesempfindungen wie Wärme, Kühle, Druck, Kitzel und Ähnliches spüren. Anschließend verweilen wir beim Becken. Hier die Anleitung für diese Übung:
- Setzen Sie sich auf einen Stuhl, am besten auf die Kante, so dass Sie Ihre Sitzbeine gut spüren können.
- Legen Sie Ihre Hände auf die Hüfte und erfühlen Sie die gesamte Knochenstruktur des Beckens, verweilen Sie dabei einige Atemzüge lang: die Hüftknochen links und rechts, hinten das Darmbein auch links und rechts, Richtung Pofalte das Kreuz- und Schambein. Kehren Sie zurück zu den Hüftknochen und wandern Sie mit Ihren Fingern nach unten zum Schambein.
- Stehen Sie nun auf und trommeln Sie mit Ihren Fingern einige Minuten lang über den ganzen Bereich.
- Halten Sie dann inne und spüren Sie der Wirkung nach. Wie hat sich Ihre Wahrnehmung verändert?
- Fangen Sie nun an, das Becken in alle Richtungen zu bewegen.
- Stellen Sie dann die Füße weiter auseinander, beugen Sie Ihre Knie und setzen Sie die Bewegung des Beckens einige Minuten lang fort.
- Halten Sie dann inne und spüren Sie der Wirkung nach. Wie hat sich Ihre Wahrnehmung verändert?
Susanna-Sitari Rescio wurde 1964 in Italien geboren und lebt seit ihrem 25. Lebensjahr in Deutschland. Sie ist Sexualtherapeutin, Gruppenleiterin, Dozentin für Sexologie und leitet das SoHam-Institut in Hamburg, eine Heilpraxis für ganzheitliche Sexualtherapie. Einer ihrer Schwerpunkte ist das Thema "Sexualität und Achtsamkeit"
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