Wir können Stress zwar nicht verhindern, aber wir können den achtsamen Umgang mit ihm lernen. Die amerikanische Zen-Lehrerin Linda Lehrhaupt zeigt, wie unser Alltag durch Achtsamkeitstraining entspannter verläuft.
Stressauslöser erkennen und eigene Ressourcen stärken
Es ist eine der Grundüberzeugungen der Achtsamkeitspraxis, dass alle Menschen die Fähigkeit aufweisen, mit den Herausforderungen und Stressbelastungen des Alltags konstruktiv umzugehen. Wie aber gelingt uns dies, wenn wir durch länger andauernde Belastungen oder durch eine Krankheit den Zugang zu unseren inneren Kräften verloren haben? Wie können wir wieder mit den eigenen Ressourcen und dem heilsamen Potenzial, das in uns allen schlummert, in Verbindung treten?
Hierfür ist es notwendig, die Stressauslöser im eigenen Leben zu erkennen und deren Alarmsignale wahrzunehmen. Stress manifestiert sich häufig zuerst im Körper, in Verspannungen, chronischen Schmerzen und einer Schwächung des Immunsystems. Durch die Übungen der Achtsamkeit stellt sich eine verfeinerte Wahrnehmung unseres Körpers ebenso wie unserer stressverschärfenden Gedanken und Gefühle ein und wir bekommen ein Gespür dafür, welche Situationen Stress in uns auslösen. Erst nach der Identifizierung der Stressfaktoren können wir gezielt entspannendes und gesundheitsförderndes Denken und Verhalten einüben. Die Achtsamkeitspraxis gibt uns hierfür ein ganzes Set an hilfreichen Tools an die Hand. Bewährte Meditationsformen aus dem buddhistischen Geistestraining werden mit Körperübungen aus dem Yoga, dem Tai Chi und Qigong kombiniert und mit modernen psychologischen und naturwissenschaftlichen Erkenntnissen angereichert. Gerade diese Verbindung aus jahrtausendealten Weisheitstraditionen mit neuestem medizinischen Wissen macht die Methode der Stressbewältigung durch Achtsamkeit so effektiv. Zahlreiche wissenschaftliche Studien aus den vergangenen Jahren belegen den stressreduzierenden Effekt dieser Methode (kurz MBSR = Mindfulness-Based Stress Reduction genannt) ebenso wie deren gesundheitsfördernde Wirkung unter anderem auf chronische Schmerzerkrankungen, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Bluthochdruck, Depressionen und Schlafstörungen. Neben der Gesundheitsprophylaxe und der Verbesserung des körperlichen Allgemeinbefindens unterstützt die Achtsamkeitspraxis Menschen darin, einen heilsamen Umgang mit ihrer Erkrankung zu finden. Zudem gelingt es mit ihrer Hilfe in vielen Fällen, Krankheitssymptome zu reduzieren.
Das MBSR-Training nach dem amerikanischen Molekularbiologen Jon Kabat-Zinn umfasst ein achtwöchiges Curriculum, das sich an gesunde Menschen, die nach Entspannung trachten, um stressbedingten Erkrankungen vorzubeugen, ebenso richtet wie an diejenigen, die bereits unter Krankheitssymptomen und Schmerzen leiden und nach Möglichkeiten suchen, diese zu mildern und einen neuen Umgang mit ihnen zu erlernen. Allen gemeinsam ist der Wunsch, endlich ruhig durchatmen zu können, das innere Gleichgewicht wiederzufinden und das zu erfahren, was bereits der Buddha als das Ziel eines jeden Menschen erkannte: glücklich zu sein.
Die zentralen Übungen der Achtsamkeitspraxis
Das Übungsset des MBSR umfasst bewährte Methoden zur Förderung der Achtsamkeit: In der Achtsamkeitsmeditation lernen wir, unsere Aufmerksamkeit auf den Atem zu richten und dadurch unser streunendes und zerstreutes Tagesbewusstsein zu ankern. Ihren Ursprung hat die Achtsamkeitsmeditation in der buddhistischen Tradition. Sie ist eine zentrale Übung der Geistesschulung und lehrt uns die bewusste Wahrnehmung von körperlichen Empfindungen, Gedanken und Gefühlen. Ziel ist eine Bewusstseinserweiterung im Sinne von mehr Wachheit und Klarheit. Es geht darum, in einer wertfreien Beobachterhaltung Gefühle und Gedanken wahrzunehmen und zu vermeiden, sich in Gedankenketten und Gefühlschaos zu verlieren, die häufig die Ursachen für Stress und stressbedingte Erkrankungen sind. Eine weitere zentrale Übung ist die Gehmeditation, die uns in achtsamen Kontakt mit unserem gesamten Körper bringt. Das achtsame Gehen ist eine sehr wirksame Methode, um zur Ruhe zu kommen. Sie verdient das Prädikat ‚besonders alltagstauglich', da wir sie auf den vielen kleinen Strecken, die wir täglich zurücklegen, anwenden können. Der Body-Scan, in dem alle Teile des Körpers wahrgenommen werden, stellt eine der wirksamsten Methoden dar, mit unserem oftmals vernachlässigten Körper in Kontakt zu kommen. Dadurch können wir Verspannungen, mit denen wir schon jahrelang leben, die wir aber im Alltag kaum mehr wahrnehmen, aufspüren. Wir fühlen plötzlich den Druck im Magen oder auf der Brust, die zugeschnürte Kehle, die schmerzenden Schultern. Indem wir alle Körperempfindungen sanft und behutsam erforschen, ohne sie verändern zu wollen, können sich Verspannungen und Energieblockaden lösen.
Gesundheitsfürsorge durch achtsames Yoga
Die gesundheitsfördernde Wirkung des Yoga kommt in der Achtsamkeitspraxis sowohl präventiv in der Stressprophylaxe und der Gesundheitsfürsorge als auch komplementärmedizinisch bei Erkrankungen zum Einsatz. In der achtsamen Yoga-Praxis geht es weniger darum, die Körperhaltungen perfekt auszuführen, sondern vielmehr darum, seine eigenen Möglichkeiten und Grenzen bewusst zu erspüren. Sie eignet sich für gesunde und fitte Menschen gleichermaßen wie für Schmerzpatienten und Menschen mit körperlichen Einschränkungen. Entscheidend für die Übungspraxis sind die zentralen Fragen der Achtsamkeit: „Was geschieht gerade jetzt? Was spüre ich? Wie nehme ich meinen Körper wahr?" Das wachsende Körperbewusstsein führt in ein intensives Erleben des Augenblicks.
Mittels achtsamer Körperübungen erkennen wir sehr deutlich unser Verhalten im Umgang mit den eigenen Grenzen. Die körperlichen Herausforderungen rufen unterschiedliche Reaktionen bei unterschiedlichen Menschen hervor. Einige stellen fest, dass sie durch das Bedürfnis, etwas erreichen zu wollen, ihre Grenzen ständig überschreiten und damit ihren Körper überfordern. Andere bemerken genau das Gegenteil: Sie hören auf, bevor es überhaupt unangenehm werden könnte, und unterfordern ihren Körper damit. Beide Verhaltensweisen sind langfristig der Gesundheit abträglich. In der Achtsamkeitspraxis üben wir uns darin, unsere Grenzen auszuloten, ohne sie gewaltsam zu überschreiten. Wer seine Grenzen nicht kennt und daher auch nicht respektiert, läuft Gefahr, sich Dinge zuzumuten, die ihm weder körperlich noch seelisch gut tun.
Sich selbst mit Sanftheit begegnen
Ich habe in den Jahrzehnten meiner Lehrtätigkeit festgestellt, dass gerade Menschen auf einem spirituellen Übungsweg häufig sehr hart mit sich selbst umgehen. Sie sehnen sich zwar nach Zufriedenheit, Ruhe und Harmonie, sind zugleich jedoch davon überzeugt, dass sie viel leisten müssen, um diesen Zustand zu verdienen. So wird die Meditation zu einer Art Selbstverbesserungsprogramm und Körperübungen werden nicht selten zu einem Kraftakt und einem Kampf gegen sich selbst. Die Achtsamkeitspraxis ist jedoch keine Methode zur Selbstoptimierung. Es geht vielmehr darum, zu erkennen und zu leben, wer wir sind. „Finde dein eigenes Licht", gab der sterbende Buddha seinen Schülern mit auf den Weg. Diese Aufforderung gilt für jeden von uns: sich auf den Weg zu machen und allem, was wir dabei entdecken, mit Klarheit, Sanftheit und Freundlichkeit zu begegnen. Die Entwicklung von Selbstmitgefühl und die Fähigkeit, liebevoll und sanft mit sich selbst umzugehen, gehören zu den schwierigsten Aspekten auf dem spirituellen Weg. Genau deshalb sind sie von zentraler Bedeutung. Denn sie fördern den behutsamen Umgang mit uns selbst und unserem Körper, mindern den Leistungsdruck, unter den wir uns so oft erbarmungslos stellen, und tragen damit entscheidend zu unserer körperlichen und seelischen Gesundheit bei.
Ich begegne vielen Menschen, die glücklich darüber sind, zur Achtsamkeitspraxis gefunden zu haben. Früher, so sagen sie, wären sie sehr hart mit sich umgegangen und ihr Leben sei wie mit einem Hochgeschwindigkeitszug an ihnen vorbeigerast. Nun aber gelinge es ihnen immer öfters, behutsam mit sich selbst umzugehen, bei sich selbst anzukommen und den Augenblick mit allen Sinnen intensiv zu erleben. Immer häufiger schaffen sie es nun, die Erfahrung zu machen: „So wie es ist, ist es in Ordnung."
Üben für einen stressfreien Alltag
Vom Umgang mit schwierigen Gefühlen
Es ist völlig normal, dass in unserem Leben immer wieder schwierige Gefühle auftauchen. Jeder von uns kennt die Angst, die uns mitunter am helllichten Tag, manchmal aber auch mitten in der Nacht heimsucht. Das Beste, was Sie dann tun können, ist, sich diesem Gefühl mit Interesse und Aufmerksamkeit zuzuwenden. Nehmen Sie das Gefühl wahr und nennen Sie es bei seinem Namen: Angst. Wo können Sie dieses Gefühl in Ihrem Körper spüren? Wo hat die Angst ihren Entstehungsort und ihren Sitz? Spüren Sie besonders in den Brust- und Bauchbereich hinein. Welche Gedanken begleiten dieses Gefühl der Angst? Entsteht in Ihnen Widerstand gegen das Gefühl und die damit einhergehenden Gedanken? Was sind die körperlichen Begleiterscheinungen? Spüren Sie vielleicht ein Gefühl der Enge? Einen Druck? Kälte oder Hitze?
Nehmen Sie einfach nur wahr, ohne zu bewerten und ohne sich mit dem Gefühl zu identifizieren. Nehmen Sie das Gefühl nicht als ‚meine Angst', sondern einfach nur als ‚Angst' wahr. Das erlaubt Ihnen die notwendige Distanz zum Gefühl.
Nehmen Sie wahr, wie sich die Intensität des Gefühls verändert, wie die Angst kommt und wieder geht. Wenn die Angst anhält, bleiben Sie dabei, diese zu beobachten. Wenn sie zu stark wird, dann richten Sie Ihre Aufmerksamkeit auf Ihren Atem und atmen Sie bewusst ein und aus. Der Atem trägt Sie durch alle Widrigkeiten des Lebens. Schließlich werden Sie feststellen, dass die Angst weniger wird und von Ihnen weicht. Gefühle sind intensiv, doch flüchtig. Das ist es, was wir in der Achtsamkeitspraxis immer wieder erfahren können.
Die Achtsamkeitsdusche
Diese Kurzform des Body-Scans ist sehr hilfreich, um mit unserem Körper in Kontakt zu kommen.
Stellen Sie sich vor, Sie sitzen unter einer Achtsamkeitsdusche. Lassen Sie Ihre Achtsamkeit ganz sanft wie Wasser von oben nach unten über Ihren ganzen Körper fließen. Spüren Sie, wie die Wärme von Ihrem Kopf über den Hals und die Schultern strömt, spüren Sie Ihren Oberkörper und Ihren Unterkörper, Ihre Arme und die Beine. Spüren Sie nun Ihre Füße und Fußsohlen im Kontakt mit dem Boden. Spüren Sie die ganze Form Ihres Körpers, seine Länge und Breite. Was nehmen Sie wahr, wenn Sie ganz offen sind für Ihren Körper? Meldet sich ein bestimmter Teil des Körpers, der Ihre Aufmerksamkeit möchte? Wie genau ist diese Empfindung? Wenn sie unangenehm ist, was genau ist daran unangenehm? Gibt es Bereiche, in denen Sie Verspannungen spüren? Spüren Sie in diese hinein. Vielleicht melden sich Gefühle und Gedanken zu Wort. Atmen Sie in den Oberkörper und in die Rippen hinein und lassen Sie den Atem aus dem Mund fließen. Und noch einmal tief einatmen und ausatmen. Üben Sie sich in den kommenden Tagen darin, Empfindungen mit dieser Art der neugierigen Aufmerksamkeit und mit offenem Gewahrsein wahrzunehmen. Eine Vertiefung dieser Körperübung ist der Body-Scan, der üblicherweise zwischen einer halben und einer dreiviertel Stunde dauert. Man durchwandert dabei den ganzen Körper von den Zehen bis zum Scheitel.