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Leben

Georg Weidinger stellt uns die fünf großen Organe der Chinesischen Medizin vor und erklärt das Denken hinter der TCM.

Heute möchte ich beginnen, Sie in das grundsätzliche Denken der Chinesischen Medizin einzuführen. Dabei werde ich Ihnen die fünf großen Organe (die Voll- oder ZANG-Organe) der Chinesischen Medizin vorstellen. Ich kann mich noch gut erinnern, wie wir als ausgebildete westliche Ärzte am Anfang unserer Ausbildung in der Traditionellen Chinesischen Medizin vollkommen ungläubig und fassungslos den Worten unseres Lehrers François Ramakers gelauscht haben. Ungläubig deshalb, weil ständig Widersprüche zur westlichen Medizin aufgetaucht sind, und fassungslos, weil die Logik der Chinesen unserer Logik oft entgegengesetzt scheint. Und alle paar Monate habe ich mir gedacht, dass ich so wohl nie werde denken können. Und ‚Klick’, eines Tages habe ich so gedacht wie mein Lehrer und denke seither so. Wahrscheinlich ergeht es vielen meiner Patienten mit meinen heutigen Worten so, wie es mir am Anfang der TCM-Ausbildung ergangen ist: verständnisloses Kopfschütteln!

Meine Erfahrung mit der Chinesischen Medizin: Sie funktioniert, wenn man so denkt wie ‚die Chinesen’, wenn man ihre Denkweise übernimmt, ohne ständig eine Entsprechung in der westlichen Denkweise einzufordern. Der Denkansatz ist eben ein anderer. Wenn man das annehmen kann, hat man schon gewonnen. Und warum? Weil am Anfang einer Medizin, einer Behandlung, nicht das Denken steht. Erinnern Sie sich an meinen letzten Artikel in dieser Zeitschrift: Ein Medizinmann braucht eine Behandlung für einen Patienten und er sucht und probiert und irgendwann funktioniert etwas, irgendwann spricht die Behandlung an. Die Erklärung, wie die Behandlung wirkt, gibt sich der Medizinmann, der Schamane, erst nachher, weil er ja verstehen möchte, wieso diese eine Behandlung gewirkt hat. Und diese Erklärung ist abhängig davon, wie der Schamane denkt, in welcher Kultur er aufgewachsen ist, welche Sprache er spricht, welche Erklärungen er von seinen Eltern gelernt hat. So ist es auch in der Chinesischen Medizin. Zuerst haben die Chinesen vor Jahrtausenden eine Krankheit erfolgreich behandelt und danach versucht, sich zu erklären, wie das möglich war.

Also, ich fange einmal an, chinesisch zu denken: Das wichtigste Organ ist die MILZ. Die Milz ist unsere Mitte, unser Zentrum. Die Milz steht für unseren gesamten Verdauungsapparat, vom Mund bis zum After, alles, was mit Verdauung zusammenhängt, nennen wir chinesisch Milz. Ich stelle mir das so vor: Die Chinesen haben vor mehr als 2000 Jahren viel Anatomie betrieben. Sie haben verstorbene Menschen aufgeschnitten und nachgesehen, wie es drinnen aussieht, um sich ein Bild zu machen. Dabei haben sie dieses große Organ im linken Bauchraum gefunden, das sehr viel Blut enthält – die Milz, so wie wir sie kennen. Von Immunsystem und Blutproduktion hat man damals noch keine Vorstellung gehabt, und weil dieses Organ so groß ist, hat man sich eben gedacht: Hm, das wird wohl der Verdauungsapparat sein, das Organ also, das das Gegessene weiterverarbeitet. So ist der Name geblieben und über die englische Übersetzung dann auch ins Deutsche übertragen worden. Es wäre viel einfacher, man würde die chinesische Milz einfach ‚XY’ nennen, dann bestünde dieses Problem der Begrifflichkeit nicht ... Und damit es nicht ganz so einfach wird, gehört das Gehirn auch noch zur Milz dazu. Chinesisch ist das Denken auch eine Art Verdauungsprozess und damit man gut denken kann, muss man gut verdauen (Sie kennen den Spruch bei uns „Das muss ich erst einmal in Ruhe verdauen“, gemeint ist damit, Erlebtes oder Gehörtes verstehen und verarbeiten zu können).
Ohne die ‚Milz’ geht gar nichts in unserem Körper, daher die Aussage:

Die Milz ist unsere Mitte, unser Zentrum.Die Milz schaut, dass es allen Organen im Körper gut geht.

In diesem Zusammenhang ist die Milz wie eine alleinerziehende Mutter von zehn Kindern. Die zehn Kinder sind die anderen Vollorgane und alle Hohlorgane. Die Milz muss einkaufen gehen (Nahrung beschaffen), kochen (die Nahrung verarbeiten), dann den ganzen Abwasch machen, die Küche reinigen, die ganze Wohnung zusammenräumen, sich um alle Kinder kümmern und alle ihre Bedürfnisse stillen, von körperlichen Bedürfnissen wie eben essen, waschen, schlafen legen, anziehen, die Wäsche waschen, die Kinder erziehen, ihnen Geborgenheit geben, Liebe, Aufmerksamkeit und Anerkennung, bis dazu, sie auch zu motivieren, ihr, der Mutter, im Haushalt zu helfen und sich auch gegenseitig um die Geschwister zu kümmern.

Chinesisch sagen wir, die Milz hält alle Organe am Platz, sie versorgt alle Organe mit Qi und Blut (sie kümmert sich um die Produktion und den Transport). Sie verwaltet die nachgeburtliche Essenz. Damit meint man jene Energie (Qi) und Substanz (Blut), welche nach der Geburt ständig produziert und neu gebildet wird. Die nachgeburtliche Essenz ist also jenes Qi und Blut, das die Milz täglich neu herstellt. Und diese verwaltet die Milz. Die Milz, die alleinerziehende Mutter, geht im Körper herum und schaut, welches ihrer Kinder etwas braucht, kümmert sich dabei auch gleich, ob Dreck herumliegt, und hebt ihn auf. Und wenn es dieser Mutter gut geht, dann geht ihr das scheinbar mühelos von der Hand und alle Kinder fühlen sich wohl, spielen miteinander, kümmern sich gegenseitig umeinander und alles fließt ... Die Milz baut die Substanz im Körper auf (wie Muskulatur und Arme und Beine). Sie beherbergt das Denken (und damit im übertragenen Sinne das Gehirn).

Wir essen und wir atmen. Die Milz macht aus beidem QI und Blut. Qi ist die Energie, die im Körper fließt und den gesamten Körper, jede einzelne Zelle, energetisch versorgt, und Blut ist die Substanz, die im Körper fließt und den gesamten Körper, jede einzelne Zelle, materiell versorgt. Und Sie werden jetzt sicher schon verstehen, dass das Blut, von dem wir chinesisch sprechen, nicht das Blut ist, das wir westlich mit einer Blutabnahme genauer anschauen und mit Begriffen wie Hämatokrit bestimmen können ... Blut nährt und kühlt, das ist die chinesische Aufgabe.
TCM

Damit Qi und Blut gut fließen, weil das die Definition von Gesundheit und Leben ist, gibt es die Leber. Die Chinesen sagen: „Die Leber sorgt für den glatten Fluss aller Dinge.“ UND: „Die Leber verwaltet und speichert das Blut.“ Westlich gedacht hat die Leber zwei Funktionen, die Ausscheidungs- und Verdauungsfunktion (Herstellung von Gallensäuren und Verdauungsenzymen) und die Entgiftungsfunktion. Chinesisch gedacht erfüllt die Leber auch die Entgiftungsfunktion: Die Leber säubert sozusagen alle sechs Substanzen (neben Qi und Blut gibt es die Flüssigkeiten, die Nahrung, den ‚guten’ Schleim – dazu später – und die Wärme, die auch im Körper im Fluss sein sollen), damit diese gut fließen können. So säubert die Leber auch die Nahrung von Giftstoffen, chemischen Zusätzen, Konservierungsmitteln und so weiter.

Die Milz hat ein Kind und das Kind heißt Lunge. Die wichtigste Funktion der Lunge ist die Atmung. Die Lunge führt die Atemluft (das Kosmische QI) nach unten in den Körper. Die Atemluft wird benötigt, um verdauen zu können. Auf zellulärer Ebene heißt das, dass wir den Sauerstoff für die ‚Zellatmung’ brauchen, für die Energieproduktion in jeder einzelnen Zelle des Körpers. Atmen heißt verdauen. So hängt die Milz mit der Lunge zusammen. Eine weitere wichtige Funktion ist das Verteilen von Abwehr-Qi (WEI QI) und Flüssigkeiten im Gewebe zwischen Muskulatur und Haut am ganzen Körper. Wenn die Verteilungsfunktion der Lunge gut funktioniert, ist das WEI QI unter der Körperoberfläche des gesamten Körpers gut und gleichmäßig verteilt, so dass der Körper gegen äußere schädliche Einflüsse (wie zum Beispiel Keime: Bakterien, Viren ... – chinesisch Wind, Hitze ...) geschützt ist. Westlich gesprochen macht daher die Lunge das Immunsystem. Die Haut ist chinesisch ein Teil der Lunge. „Die Lunge kontrolliert die Haut.“ Ein Zeichen einer starken Lunge ist eine starke Körperbehaarung. Diese entspricht dem Fell eines Tieres und dieses schützt das Tier vor Kälte und Wind und Sonneneinstrahlung. Wenn man ein gutes Fell hat, hat man einen guten Schutzmantel gegen äußere Einflüsse.

Das nächste Organ ist die Niere. Die Niere ist eine Art Speicher. Sie speichert YIN und YANG. YIN ist die Substanz in Speicherform, YANG ist die Energie in Speicherform. Beides zusammen bildet die Essenz, das JING.
Das Bild der Chinesen für das Jing in der Tradition ist eine Kerze, die brennt. Die Kerze entspricht dem YIN, die Flamme entspricht dem YANG. Bis ins 20. Jahrhundert war es die Vorstellung der Chinesen, dass, wenn die Kerze abgebrannt ist, der Zeitpunkt des Todes bevorsteht. Auch die Chinesen haben im 20. Jahrhundert sehr viel geforscht, unter anderem auch mit der Kombination von westlichen Medikamenten und chinesischen Kräutern beziehungsweise auch mit Acetylsalicylsäure (ASA), einer Substanz aus der Weidenrinde, bei uns weitläufig als Aspirin bekannt. ASA verhindert zum Beispiel, dass das Blut stecken bleibt, verhindert eine Blutstagnation. Wenn das Blut stecken bleibt, wenn die Materie im Körper nicht gut fließt, wird man sehr krank, stirbt man.
Das neue Bild ist folgendes: Man muss mit seinem Nieren-Jing sehr gut haushalten. Aber wenn wenig da ist, ist das nicht zwangsläufig ein Todesurteil: Wenn man darauf achtet, dass alles im Körper gut fließt und dass immer ausreichend Qi und Blut vorhanden ist, dann kann man auch mit wenig Jing, mit wenig Speicher in den Nieren auskommen und lange leben!Die Niere speichert also das JING, die Essenz, die vorgeburtliche Energie. Diese besteht aus YIN und YANG. Dieses Nieren-YIN und -YANG ist die Basis für das gesamte YIN und YANG des Körpers. Das zeigt sich zunächst einmal in der Geburt, in der Entwicklung als Kind, im Wachstum und später auch in der Zeugungsfähigkeit des Erwachsenen, da ein Erwachsener ein gutes JING braucht, um sich fortpflanzen zu können. Da hat die Natur einfach einen Sicherheitsschalter eingebaut. Es soll sich nur der fortpflanzen, der auch etwas zum Weitergeben an die nächste Generation hat, der den Fortbestand der Gattung Mensch durch gutes Jing sichern kann.

Weiters zeigt es sich an dem YIN und YANG jedes einzelnen Organs. Nur wenn Nieren-Yin und -Yang stark sind, werden auch alle anderen Organe stark sein. Wenn das Fundament eines Hauses, und damit könnte man das JING vergleichen, schwach ist, dann wird das ganze Haus nicht gut stehen bleiben. Da kann die Milz noch so viel Blut und Qi produzieren. Wenn das Fundament fehlt, wird das Haus einstürzen. Das letzte ‚Vollorgan’ ist das Herz. Das Herz pumpt Blut durch den Körper und beherbergt den Geist, Shen.

Denken Sie an eine Fernsehwerbung für Hundefutter: Welchen Hund wird man da zeigen? Einen, der voller Energie, mit Spaß und Freude an der Bewegung herumspringt und sich bewegt, mit vollem, glänzendem Haar, das sanft geordnet im Wind fliegt. Das ist Shen! Shen könnte man mit ‚Ausstrahlung’ übersetzen. Wenn es dem Körper so richtig gut geht, in jedem Aspekt, in jedem Organ, wenn es so richtig gut fließt im Körper, wenn viel Qi und Blut da ist, dann sieht man das. Sie kennen das sicher, dass Sie jemanden treffen und sich denken: Der schaut wirklich gut und gesund aus. Das ist Shen. Ein gesunder Shen führt dazu, dass wir kreativ sind, dass wir uns wohlfühlen, dass wir Perspektiven und Träume haben im Leben. Mein Lehrer François hat immer gesagt: Wenn du einen Patienten das erste Mal triffst, erzähl ihm einen Witz, und wenn er dann lacht (vorausgesetzt, der Witz ist gut ...), dann hat er Shen (zumindest gerade genug, dass es Sinn macht, ihn zu behandeln). Wenn er Shen hat, dann besitzt er eine Perspektive und damit hat auch die Behandlung, die ich ihm zukommen lasse, Aussicht auf Erfolg.


Dieser Artikel erschien in der Ursache\Wirkung №. 79: „Heilender Sex"

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Sie kennen sicher auch Menschen, bei denen, egal, was sie erzählen, immer alles ganz schlimm und ganz furchtbar ist. Die leben ohne Shen. Und das Allerwichtigste in der Prognose, in der Behandlung einer Erkrankung, im Leben überhaupt ist, dass man Shen hat!
Das war jetzt ungemein viel Theorie. Ich habe von Ihnen gefordert, sehr viel zu denken, ich weiß. Denken belastet die Milz. Daher ist die heutige Hausaufgabe (und Sie wissen schon, dass es bei mir immer eine Hausaufgabe gibt!): Verdauen Sie das alles erst einmal in Ruhe! Und das nächste Mal erzähle ich Ihnen, wie man dem Körper helfen kann, dass es allen Organen, vor allem der Milz, unserer Mitte, gut geht!

Georg Weidinger geboren 1968 in Wien, studierte Medizin an der Universität Wien, Doktorat 1995, Traditionelle Chinesische Medizin und Akupunktur (unter anderem bei Dr. François Ramakers, Prof. Dr. med. et Mag. phil. Gertrude Kubiena, Dr. Gunter R. Neeb), Diplom 2003, klassisches Klavier und Komposition am Konservatorium der Stadt Wien, Computermusik und Elektronische Medien an der Universität für Musik Wien, Diplom mit Auszeichnung 1999. Seit 2002 betreibt Georg Weidinger eine Praxis für Traditionelle Chinesische Medizin und Akupunktur in Wien. Daneben hält er regelmäßig Vorträge, Seminare und Manager-Schulungen über die Themen Burnout-Prävention, Arbeitsenergie, Traditionelle Chinesische Medizin und Yoga und schreibt Artikel für verschiedene Zeitschriften. Als Musiker (Pianist und Komponist) konzertiert er seit 1991 regelmäßig mit eigenen Werken sowie mit Werken des Jazz, der Klassik und der experimentellen Musik. Neun Solo-CDs, vor allem mit eigenen Kompositionen, erschienen bei Extraplatte, ORF/Ö1 sowie im eigenen Label klaviermusik.

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Dr. Georg Weidinger

Dr. Georg Weidinger

Georg Weidinger geboren 1968 in Wien, studierte Medizin an der Universität Wien, Doktorat 1995, Traditionelle Chinesische Medizin und Akupunktur (unter anderem bei Dr. François Ramakers, Prof. Dr. med. et Mag. phil. Gertrude Kubiena, Dr. Gunter R. Neeb), Diplom 2003, klassisches Klavier und Kompos...
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