Konflikte können viele Ursachen haben – stark sind all jene, die durch Versöhnung den inneren Frieden wiederherstellen können.
Streit ist so alt wie die Menschheit. Ein Zank zwischen Geschwistern, eine Auseinandersetzung mit den Eltern, eine Meinungsverschiedenheit unter Freunden: Stets treffen unterschiedliche Interessen aufeinander. Können Sie sich an Ihren letzten Streit erinnern? Worum ging es?
Wer einen Augenblick innehält, spürt vielleicht, dass der Inhalt einer Auseinandersetzung oft nicht von großer Bedeutung ist. Als Psychotherapeutin höre ich von meinen Klientinnen oft folgenden Satz: „Ich weiß gar nicht mehr, worum es ging.“ Dann folgt meistens eine kurze Pause, dem ein „Aber …“ folgt.
Das Aber ist der Auftakt für die Schilderung einer Kränkung, die jemand ausgelöst hat. Oft ist es die Wiederholung einer uralten Kränkung. Insofern hat Streit stets zwei Ebenen: auf der einen Seite einen aktuellen Anlass, auf der anderen Seite den dahinterliegenden Konflikt. Es gibt eine Handvoll sogenannter Ur-Konflikte und ihre zugrundeliegenden Gefühle. Erstens: Die Angst, verlassen zu werden. Zweitens: Das Gefühl, nicht ernst genommen zu werden. Drittens: Für einen anderen nicht wichtig zu sein oder nicht gesehen zu werden. Viertens: Das Gefühl, zu kurz zu kommen, beziehungsweise der Eindruck, der andere oder das Leben im Allgemeinen seien einem etwas schuldig. Fünftens: Das Gefühl, stets mehr zu geben, als zu bekommen.
Versöhnen geht weit über das Verzeihen hinaus.
Wo Streit ist, folgt der Gedanke der Versöhnung, weil sonst Situationen unerträglich werden können, etwa im Beruf oder dann, wenn Beziehungen bedroht sind. Bei diesen notwendigen Versöhnungen erinnern sich viele an Szenen aus der Kindheit, etwa an Momente, in denen Erwachsene streitende Parteien trennten und „Gebt euch die Hand und vertragt euch wieder!“ sagten. Meist folgen Kinder solchen Aufforderungen. Interessant an diesem Szenario ist, dass die angeordnete Versöhnung in den meisten Fällen funktioniert und nach kurzer Zeit das Spiel in Eintracht weitergeht.
Dies kann als Hinweis darauf gewertet werden, dass dies theoretisch bei jeder Auseinandersetzung möglich wäre.
Leider funktioniert die Methode ‚Vertragt euch wieder‘ bei Erwachsenen nicht mehr so gut. Der Grund: Häufig sind unbearbeitete Konflikte der Auslöser für Streitigkeiten.
Bei Menschen, die auf Auseinandersetzungen mit Gelassenheit reagieren, weil sie psychisch stabil und mit ihrem Leben im Einklang sind, werden alte Konflikte weniger leicht getriggert. Trigger ist der Fachbegriff für ein aktuelles Ereignis, eine Bemerkung oder eine besondere Situation, die alte Verletzungen in Erinnerung bringen und damit einen alten Schmerz reaktivieren. Allerdings: In einer Beziehung immer wieder an alte Verletzungen zu stoßen ist nicht unbedingt hochneurotisch oder ein Zeichen für eine frühere Traumatisierung. Wir sind einfach weniger geschützt bei Menschen, die wir lieben und denen wir vertrauen, und deshalb schneller verletzt.
Verzeihen, vergeben, versöhnen: Welche Unterschiede gibt es zwischen diesen Begriffen? Meist werden diese Ausdrücke ja weitgehend synonym gebraucht. Das ist bedauerlich, weil es feine Unterschiede gibt. Verzeihen bedeutet, aufhören, jemanden zu bezichtigen, also jemandem vorzuwerfen, er oder sie hätte etwas Unrechtes getan. Ob wir innerlich damit übereinstimmen, bleibt offen. Vergeben wiederum ist die Fortsetzung des Verzeihens. Wir gehen auch hier von der Vorstellung aus, jemand sei uns etwas schuldig – und wir erlassen ihm, das Geschuldete zurückzugeben. Wir ent-schuldigen den anderen also.
Das Wort Entschuldigung wird in diesem Zusammenhang oft unglücklich und nicht im Sinne der Versöhnung verwendet. So empören sich manche Menschen, wenn der Streitpartner ihnen nach einem Konflikt nicht sofort wieder wohlgesonnen ist: „Ich habe mich doch entschuldigt“, sagen sie. Das ist widersinnig. Der andere muss entschuldigen. Es müsste also heißen: „Ich bitte um Entschuldigung“ statt „Ich entschuldige mich“. Der Akt der Versöhnung geht über das Verzeihen und Vergeben hinaus. Er enthält das Wort ‚Sühne‘. Keine Vergeltung, auch keine Wiedergutmachung ist mehr erforderlich.
Sich zu versöhnen erfordert eine gewisse Charakterstärke, nämlich die Entscheidung, den Streit nicht fortzusetzen, auch wenn es noch viel zu sagen gäbe. Wir vergessen im Streit immer wieder, dass alles Wichtige meist schon vielfach ausgesprochen wurde. Während des Streites zu unterbrechen, um ‚wieder zu sich zu kommen‘, oder nach dem Streit eine Weile mit sich allein zu sein, kann bei einer Versöhnung sehr hilfreich sein. Zentral ist, dass das im Streit entstandene Gefühl erkannt und benannt wird. Handelt es sich um Wut, Angst, Enttäuschung? Warum fühle ich so? Welches Bedürfnis habe ich? Welchen Wunsch an den Partner? Es ist eine Selbsteinfühlung nach dem Konzept der ‚Gewaltfreien Kommunikation‘ von Marshall B. Rosenberg. Oft ergibt sich die Erkenntnis, dass der äußere Streitgegenstand nicht wirklich wichtig war. Nun ist es sinnvoll, dem anderen die Ergebnisse der Selbstreflexion mitzuteilen – ohne Vorwürfe und Ansprüche. So kann Versöhnung gelingen – übrigens auch einseitig.
Ob einem eine Versöhnung leicht- oder schwerfällt, hängt von verschiedenen psychischen Fähigkeiten ab. Wobei das von Erziehern und Partnern geforderte Verzeihen-Können nicht identisch ist mit dem, was ich als Versöhnung bezeichne. Von seinem Ursprung bedeutet das Wort verzeihen: aufhören, jemanden für etwas zu bezichtigen, also auf weitere Anschuldigungen zu verzichten. Das beinhaltet immer noch ein Verharren in der Haltung, der andere habe mir etwas angetan, beziehungsweise das Gefühl, Opfer zu sein. Damit ist die negative Verbindung Opfer-Täter beziehungsweise unschuldig-schuldig nicht aufgehoben.
Versöhnen geht weit über das Verzeihen hinaus – und ist deshalb umso schwieriger. Es bedeutet den Verzicht auf den Opferstatus und die Auseinandersetzung mit der eigenen Beteiligung am Streit. Dies ist ein hoher Anspruch für Menschen, die in ihrer Kindheit verletzt wurden oder die vom Gefühl getrieben sind, immer um Recht und Glück kämpfen zu müssen. Sie identifizieren sich oft mit dem Leid und haben das Gefühl, nicht mehr zu wissen, wer sie sind, wenn sie auf ihren Opferstatus verzichten. Sich versöhnen erscheint vielen als Verleugnung des Leids, als Selbstverrat. Aber ganz gleich, was unsere schwer versöhnlichen Mitmenschen im Innersten bewegt: Wir können davon ausgehen, dass es tendenziell unglückliche Menschen sind. Dieser Gedanke macht es leichter, sich mit den Unversöhnlichen und Nachtragenden zu versöhnen.
„Der Schwache kann nicht verzeihen. Verzeihen ist eine Eigenschaft des Starken.“
Je schlimmer ein Mensch verletzt wurde, umso schwerer fallen Verzeihung und Versöhnung. Die Psychologin Luise Reddemann sagt dazu: „Menschen zu danken oder sich mit ihnen zu versöhnen, die einem nach üblichen Maßstäben geschadet haben, ist für viele nicht vorstellbar und auch nicht möglich, ja, in manchen Fällen wäre dies eine erneute Verletzung. (…) Wenn es sich dennoch ergibt, ist es ein Geschenk, das einen Menschen reich machen kann.“
Darin liegt ein wichtiger Grundgedanke: Versöhnung kann bereichern. Versöhnung kann stolz auf die eigene Entscheidungsfähigkeit machen. Versöhnung kann die Befreiung aus einer Opferposition bedeuten. Und schließlich: Versöhnung kann das Selbstbewusstsein stärken. Denn Versöhnung ist eine innere Haltung, ein Gefühl. Ganz sicher heißt Versöhnung nicht, negative Erlebnisse gutzuheißen. Vielmehr bedeutet es, Erlebtes hinter sich zu lassen, der Vergangenheit keinen Raum in der Gegenwart zu geben und sie als Erinnerung an etwas, das man überstanden hat, zu erkennen. Das kann eine Bereicherung sein. Denn Versöhnung bedeutet auch, den Blick zu verändern. Ein Beispiel dafür wäre folgende Gedankenkette: „Sicher war er ein Täter, aber er ist auch ein Mensch, der nach seinem Glück strebt. Und: Ich weiß nicht, wie ich agieren würde, wäre ich in seiner Situation.“
Versöhnung ist ein Weg aus Feindseligkeit und Hass, das Ende des Gefühls der Hilflosigkeit und Aussichtslosigkeit. Um mit Gandhi zu sprechen: „Der Schwache kann nicht verzeihen. Verzeihen ist eine Eigenschaft des Starken.“
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