Der deutsche Theravada-Lehrer Vimalo Kulbarz, geboren 1931, über mystische Erlebnisse, die prägen, negative Denkmuster, die aufgelöst werden können, und dunkle Seiten, die gesehen werden müssen.
Sie haben Ihr Leben der Lehre des Buddha, ihrer Übung und Weitergabe gewidmet. Was ist für Sie persönlich der größte Gewinn, den Sie aus diesem besonderen Lebensweg für sich gezogen haben?
Ich habe lange in Burma gelebt und dort bei Mahasi Sayadaw neun Monate einen Meditationskurs absolviert und anschließend die Ausbildung als Meditationslehrer. Dort habe ich viele tiefe Erfahrungen gemacht. Aber weit darüber hinaus ging folgende Erfahrung: Ich war in Thailand, saß in einem Auto, weil mich jemand mitgenommen hatte, und übte reines Betrachten. Und plötzlich war das Ungeschaffene da. Als sich das offenbarte, breitete sich in mir unglaubliche Glückseligkeit aus. Mir war klar: Das ist die Erlösung, das ist Nirvana – wenn es bleibt. Es hielt jedoch nur ungefähr eine Stunde lang an. Aber in dieser Stunde hatte ich mehr Erkenntnisse gewonnen als in meinem ganzen Leben davor. Zuerst war ich mir unsicher, worum es sich dabei gehandelt hat. Nach einigen Tagen kam mir der Gedanke, dass dies der Stromeintritt gewesen sei. Danach fand ich in den Reden des Buddha einen Text (MS 56), der das ganz genau beschrieb. Dieses Erlebnis hat mir die Fähigkeit gegeben, mystische Aussagen der Religionen zu verstehen. Das war das größte Geschenk aus diesem Erlebnis.
Sie haben gesagt, dass dieses Erlebnis nicht bleibt. Meine Frage ist: Wie äußert sich das bis heute im täglichen Leben? Welche konkreten Auswirkungen hat eine derartige Erfahrung?
Vor einigen Jahren haben Sie mich angeregt, ein Buch über den ‚Achtfachen Pfad’ zu schreiben. Daran habe ich nun sechs Jahre gearbeitet und versucht herauszufinden, wie wir den achtteiligen Übungsweg, wie ich ihn nenne, in unserem täglichen Leben anwenden können. Das hat meine innere Entwicklung sehr gefördert.
Das heißt, eine solche Erfahrung führt nicht sofort zu einer Änderung des Verhaltens, sondern man muss sich das erst mit dem rechten Verständnis erarbeiten.
Es ist sehr schwer zu sagen, dieses oder jenes ist das direkte Ergebnis. Ich sehe das eher so, dass sich in der Tiefe meines Geistes einiges verändert hat. Aber in weiterer Folge musste ich das auch umsetzen.
Ich weiß, dass Sie uns besonders in Ihrem letzten Buch, auffordern, die Buddha-Lehre tief zu verstehen und unser Verhalten zu ändern. Konnten Sie selbst Ihre Einstellung und Ihr Verhalten ändern? Wie kommen Menschen, die meditieren, zu so einer Änderung?
Ich hatte eine schwierige Kindheit und dadurch fiel es mir nicht leicht, mich selbst anzunehmen. Das führte auch dazu, dass ich große Probleme hatte, Kritik anzunehmen, mich schnell verletzt fühlte und überempfindlich reagierte. Dann ist mir klar geworden, das Problem ist nicht die Kritik, sondern meine Überempfindlichkeit. Ich habe erkannt, dass der Wandel eintritt, wenn es mir gelingt, mich für das zu öffnen, was der andere sagt. Damit war das Problem erledigt.
Ich denke, wir haben beide festgestellt, dass Menschen mit traumatischen Erfahrungen oft so tief in ihren Mustern stecken, dass es ihnen nur schwer möglich ist, ihr Verhalten zu erkennen und zu ändern. Brauchen sie da nicht zunächst eine Therapie, um sich diese Muster bewusstzumachen und ihnen zu begegnen? Oder genügt es zu meditieren?
Meine Erfahrung ist, dass ich mich oft wegen dieser unangemessenen Verhaltensweisen verurteilt habe. Dann habe ich aber gesehen, durch das Verurteilen vervielfältige ich meine Probleme, verstärke Minderwertigkeitsgefühle und Zweifel. Ich habe mich darin geübt, das Verurteilen wegzulassen. Die Ansicht, dass ich ein Versager bin, habe ich ersetzt durch die Einstellung, jedes Problem ist eine Aufforderung, daraus zu lernen. Das Verurteilen ist überhaupt nicht mehr da. Indem ich die Ursachen erkannt hatte, hat es mir geholfen, aus Problemen Entwicklungsmöglichkeiten zu machen.
Wie geht das?
Wenn ich merke, dass ein altes Verhaltensmuster auftaucht, dann halte ich inne und lasse es nicht weiter ablaufen, sondern frage mich, welches Verhalten in dieser Situation „Der Sinn des Lebens ist innere Entwicklung“ angemessen ist. Wenn ich in mich hineinhöre, erkenne ich oft intuitiv, wo sich der Schlüssel zur Lösung befindet. Das hilft mir, die treibenden Kräfte zu erkennen, die hinter unheilsamem Verhalten liegen. Intuition hilft da, wo eine klare Analyse häufig nicht viel bringt.
Bedeutet das für Meditierende, dass sie lernen, zunächst die dunklen Seiten, die in ihnen hochkommen, anzuschauen und zu akzeptieren?
Vor langer Zeit fragte mich jemand, was man tun kann, wenn in der Meditation alte, unerledigte Dinge hochkommen. Damals sah ich die Lösung darin, den traditionellen Weg einzuschlagen, nämlich zurück zur Meditation. Doch dann warf jemand ein, es müsse doch möglich sein, mit Hilfe der Meditation eine Auflösung solcher Erscheinungen herbeizuführen. Und das hat mir eingeleuchtet. Ich hatte zu dieser Zeit ein unerledigtes Problem mit einem Freund. Da habe ich mich leer gemacht und für das Problem geöffnet – und plötzlich war da eine umfassende und tiefe Einsicht in den ganzen Umfang und die Dynamik dieses Prozesses. Ich verstand, was hinter meiner Enttäuschung, hinter meinem Ärger war, ich sah auch, warum mein Freund sich so verhalten hatte. Und ich spürte, dass sich
etwas verändert hatte. Seitdem gehe ich nicht mehr mit alten Lösungen an Probleme heran.
Das heißt, die Änderung kommt nicht aus dem Bemühen, sich anders zu verhalten, sondern aus der Öffnung, dem Akzeptieren und der daraus folgenden Einsicht?
Ja, die intuitive Einsicht war oft in der Lage, die Einstellung zu ändern, die zu dem Problem geführt hat. Ein Problem entsteht nur, wenn etwas mit der Einstellung nicht stimmt. Es gibt heilsame und unheilsame Einstellungen. Die Einsicht hat mir geholfen, die unheilsamen Einstellungen abzuschwächen oder aufzulösen. Das verwende ich auch bei unangemessenen Verhaltensweisen. Ich untersuche, was die treibende Kraft ist, die mich veranlasst hat, mich so zu verhalten, wie ich es getan habe.
Das ist ja auch ein zentrales Anliegen in Ihrem Buch.
Meine Motivation für die Arbeit an dem Buch lag darin, die Lehre so zu erklären, dass die Menschen aus unserem Kulturkreis etwas damit anfangen können. Es geht mir darum, die
Lehre lebendig werden zu lassen. Der Buddha hat betont, dass ein wesentlicher Teil seiner spirituellen Arbeit darin besteht, das Handeln, das Reden und das Denken, die Motive und die Folgen des eigenen Handelns gründlich zu untersuchen. Ich habe den Eindruck gewonnen, dass diese psychologische Seite des Buddha-Weges ein wenig verloren gegangen ist. Da können wir uns aus der Psychologie nützliche Anregungen holen.
Verschwinden dann nicht die Grenzen zwischen buddhistischer Meditation und psychologischer Therapie? Manche sagen, Meditation hat doch nichts mit Therapie zu tun, hier geht es um Erleuchtung. Wer einer Therapie bedarf, der soll doch zunächst einmal zum Psychiater.
Ich sehe das so: Wenn man gelernt hat, den achtteiligen Übungsweg des Buddha anzuwenden und in der Tiefe zu verarbeiten, dann braucht man nicht zu einem Therapeuten zu gehen. Ich habe immer wieder gemerkt, dass viele Therapeuten zwar anderen, aber nicht sich selbst helfen können. Das ist der fundamentale Unterschied. Auf Buddhas Übungsweg soll das der Mensch selbst herausfinden und entwickeln.
Ist es nicht notwendig, auf dem Weg ein Gegenüber zu haben, einen edlen Freund oder auch einen Therapeuten, der einem einen Spiegel vorhält? Denn es ist doch sehr schwierig, alles allein zu untersuchen. Unser Geist will diese Dinge oft gar nicht sehen und sträubt sich dagegen.
Wenn ich einen Widerstand bemerke, dann schaue ich mir diesen Widerstand genau an und frage: Was ist hinter diesem Widerstand? Es kann zum Beispiel sein, dass einem der Gedanke unerträglich ist, unvollkommen zu sein. Wenn man das aber als eine Aufforderung sieht, daraus etwas zu lernen, dann ist das doch gut. Ob man ein Gegenüber braucht oder allein zurechtkommt, das ist auch eine Frage des Typs. Ich persönlich kann das besser allein.
Heute wird in vielen buddhistischen Meditationskursen der Schwerpunkt auf Ruhe, Stille, Konzentration und stundenlanges Sitzen gelegt. Braucht man das überhaupt?
Meiner Meinung nach hat sich da eine starke Bedeutungsverschiebung ergeben. Buddha sprach von Samatha, demZustand der inneren Stille, und Vipassana, der Fähigkeit zum klaren Erkennen. Später hat man daraus verschiedene Methoden und Techniken entwickelt. Deren Wert ist zwar nicht zu leugnen, aber es besteht auch die Gefahr, dass man sich an diese Methoden klammert. Buddhas Ansatz war jedoch ein anderer. Bei vielen wichtigen Aspekten seiner Lehre hat er nicht gesagt, wie man dorthin kommt. Er hat sie nur beschrieben. Sein Ansatz war es – und das ist auch mein Vorgehen –, die nötigen Voraussetzungen zu schaffen, damit ‚es’ geschieht. Bei dem langen Meditationskurs in Burma habe ich das selbst erlebt. Nach einiger Zeit entstanden die Vertiefungen von selbst. Buddha hat diese innere Stille für sehr wichtig gehalten, weil man dadurch zu dem findet, was ein chinesischer Zen-Meister die innere Schatzkammer genannt hat, die tief in jedem von uns vorhanden ist, das ist unser schöpferisches Potenzial.
Für die Meditation muss man viel Disziplin aufbringen und sich in den Kursen an bestimmte Formen halten. Welche Rolle spielt da die von Ihnen erwähnte schöpferische oder
künstlerische Kreativität?
Für mich ist Kreativität nicht auf den künstlerischen Bereich beschränkt. Kreativität bedeutet, flexibel und schöpferisch die Mittel anzuwenden, die bei einer bestimmten Herausforderung angemessen sind und zu einer wirklichen Lösung führen. In gewisser Weise ist es auch die Freiheit, selbst zu entscheiden, was in der jeweiligen Situation passend und richtig erscheint.
Es wird oft betont, wie gut es ist, bestimmte Verhaltensregeln zu befolgen.
Mein Ansatz ist: Wenn man sich an die Grundregel hält, bei anderen das zu unterlassen, was einem selbst sehr unangenehm wäre, dann ist es nicht mehr so wichtig, sich an Verhaltensregeln zu orientieren. Ich würde es so formulieren: Liebe den Dharma und tue, was angemessen ist. Daraus ergibt sich dann das ethische Verhalten.
Wie sehen Sie aus westlicher Perspektive die buddhistischen Konzepte von Karma und Wiedergeburt? Manche Buddhisten behaupten, das wäre nicht mehr zeitgemäß und es gäbe in der Lehre des Buddha ohnedies keine Wiedergeburt.
In den Schriften steht, dass Buddha sich in der Nacht der Erleuchtung an viele frühere Leben erinnert hat. Außer an dieser Stelle gibt es noch viele eindeutige Aussagen darüber, daher kann man das doch nicht leugnen. Für mich ist die Lehre von Karma und Wiedergeburt so etwas wie ein spirituelles Evolutionsmodell. Buddha hat ja immer wieder hervorgehoben, dass er in seinen früheren Leben eine Menge an Voraussetzungen schaffen musste, um in seinem letzten Leben ein Buddha zu werden. Der Sinn des Lebens, das ist für mich ganz klar, ist die innere Entwicklung. Wenn einem das bewusst ist, verändert das sehr viel im Leben. Auch in unserer Kultur gibt es viele Erfahrungen von Wiedergeburt.
Sie sind 1931 geboren und haben auf dem Weg viele tiefe Erfahrungengemacht und Erkenntnisse gewonnen. Was ist auf der letzten Strecke Ihres Lebens noch wichtig? Womit möchten Sie Ihre Zeit vorwiegend verbringen?
Nachdem mein Buch fertig geworden ist, habe ich mir fest vorgenommen, intensiv zu meditieren und noch tiefer zu gehen. Ich sehe das prinzipiell so, dass alte Menschen – und davon gibt es ja in unserer Kultur immer mehr – eine wunderbare Gelegenheit haben, durch Meditation ihrem Leben größere Tiefe und Bedeutung zu geben, Reife und emotionale Intelligenz zu entwickeln und sich auf den Tod vorzubereiten. Gerade im Alter hätten wir doch die kostbare Gelegenheit, den achtteiligen Übungsweg intensiv zu beschreiten.
Da hätte ich eine Idee: Wir gründen ein buddhistisches Haus für Senioren und praktizieren dort gemeinsam.
Ist das ein Scherz? (Beide lachen.) Viele alte Menschen sind heute ganz allein. In diesem Sinn und als Anregung zur Praxis ist das sogar eine sehr gute Idee!