Vom Ursprung des Wortes Gelassenheit und der Umsetzung im heutigen Alltag.
Es war ein sonniger Herbsttag vor vielen Jahren. Ich hatte damals schon Zen kennengelernt und übte täglich. Ich wollte zu einer geschäftlichen Besprechung und war ein bisschen knapp dran. Mein Auto ist ein ‚Zen‘-Auto: klein, praktisch und passt in jede Parklücke. Die Mini-Parklücke war aber gerade an diesem Morgen nicht vorhanden. Einzig vor einer offenbar wenig genutzten Einfahrt, die in einen verwahrlosten Garten hineinführte, fand sich ein kleiner ‚angefangener‘ Parkplatz. Ich stellte mich hin, aber das Heck des Autos ragte in die Einfahrt hinein. Ich dachte, falls jemand wirklich hinein- oder hinausfahren wollte, käme er mit gutem Willen sogar mit einem großen Auto durch. Ich ging zu meinem Termin und kam zurück. Da sah ich schon vor meinem Auto eine behäbige Frau mit ihrem Rauhaardackel stehen. Die Arme in die Hüften gestemmt, fuhr sie mich missmutig an: „Sehen Sie nicht, dass Sie in der Einfahrt stehen?“ Ich lachte freundlich und sagte: „Ach, das tut mir aber jetzt leid. Das nächste Mal passe ich besser auf.“ Die Frau blieb sprachlos stehen und wusste wohl nicht, wie sie mit der ungewohnt freundlichen Antwort umgehen sollte. Als ich mich ins Auto setzte, staunte ich selber. Was war da eben passiert? Gewöhnlich hätte ich ungehalten reagiert. Aber wo hatte ich nur meine Wut gelassen? Woher diese ‚gelassene‘ Reaktion? Hatte das mit meiner Meditation am Morgen zuvor zu tun?
Gelassenheit ist das Resultat vieler Stunden Übung loszulassen, wegzulassen, sein zu lassen während der Meditation.
Gelassenheit – eine altmodische Tugend?
Vor einiger Zeit ist mir ein abgegriffenes Büchlein in die Hände gefallen, das ich schon fast zum regionalen Flohmarkt getragen hätte. Der Titel ‚Wesen und Wandel der Tugenden‘, geschrieben von einem Philosophen und Naturwissenschaftler, Otto Friedrich Bollnow, bewegte mich dazu, ein bisschen darin zu blättern. Bollnow wirkte ab 1939 als Universitätsprofessor in Gießen, das Büchlein war 1958 erschienen. In diesem Büchlein schreibt Bollnow kapitelweise über unterschiedliche Tugenden. Bollnow schreibt zu Beginn der Wirtschaftswunderzeit: „Gelassenheit ist ... heute fast schon eine veraltete Tugend. Nicht nur, dass in unseren bewegteren Zeiten die Gelassenheit in hohem Maß verlorengegangen ist, sie ist darüber hinaus weitgehend auch als Ziel aus den Augen gekommen. Wer strebt heute schon nach Gelassenheit im Leben?“
Gelassen reagieren
Heute, 60 Jahre später, ist Gelassenheit definitiv keine altmodische Tugend. Gelassen zu reagieren bedeutet, gerade in bewegten Zeiten Ruhe und Klarheit zu bewahren und zu erfassen, was ‚wirklich‘ in einer Situation vor sich geht, unabhängig von ichbezogenen Interpretationen und alten Gedankenmustern.
In der Parklücken-Geschichte hatte ich mich über mich selbst gewundert. Irgendetwas hatte sich da in meinem Gehirn anders verdrahtet. Statt des ärgerlichen Zurückbeißens kam ein heiteres „Das tut mir aber leid“.
Das gleiche Thema greift auch die Geschichte mit Zen-Meister Tokusan auf.
Tokusan kam eines Tages mit den Essschalen in der Hand in die Halle hinunter. Seppo fragte ihn: „Meister, die Glocke hat noch nicht geläutet und die Trommel ist noch nicht geschlagen worden. Wohin geht Ihr mit Euren Essschalen?“ Sofort ging Tokusan in sein Zimmer zurück.
Seppo ist in dieser Geschichte der Koch und Tokusan der Zen-Meister. An diesem Tag war das Essen später als sonst, Tokusan wusste aber nichts davon, denn er kam mit den Essschalen in die Halle. Seppo ließ es an Ehrerbietung fehlen und wies Tokusan zurecht: Was kommst du jetzt schon mit deinen Essschalen hierher, obwohl noch nicht zum Essen geläutet wurde? Seppo war noch dazu so von sich angetan, dass er es sogar später weitererzählte, so in der Art „Da habe ich es dem Alten aber gezeigt“.
Tokusan hat seinen Schüler Seppo nicht zurechtgewiesen, sondern im Gegenteil. Die Überlieferung sagt, er sei ruhig in sein Zimmer zurückgegangen. Er hatte gelassen – das heißt unberührt vom Machtspielchen „Wer hat recht?“ – reagiert.
Gelassenheit ist das Resultat vieler Stunden Übung loszulassen, wegzulassen, sein zu lassen während der Meditation. Die Gefühle und die Gedanken, die beim Stillsitzen auftauchen, weiterziehen zu lassen ist die beste Übung, um gelassen zu reagieren. Das bedeutet nicht, dass das Meditieren zur Gleichgültigkeit führt. Die Betroffenheit ist da, aber die erste Reaktion ist, anders oder auch gar nicht zu reagieren. Mit dem Zeitpuffer kann man dann überlegen, was eine angemessene Reaktion wäre. Muss ich überhaupt reagieren? Muss ich dem Angreifer freundlich, aber bestimmt Grenzen setzen? Ist es unerheblich? Was ist das Beste für die Situation? Abseits von Standesdünkel, davon, die eigene Position zu verteidigen oder den Standpunkt meiner Religion, Partei oder Organisation. Was erfordert die Situation?
So ist auch die Episode mit Tokusan zu verstehen. Er muss sich nicht verteidigen, er muss den ungehörigen Mönch auch nicht maßregeln. Er stellt einfach fest, dass er zu früh dran war zum Essen. Schluss, Punktum.
Gelassenheit kommt von lassen
Woher kommt das Wort ‚Gelassenheit‘? In der christlichen Mystik spielt ‚lassen‘ eine große Rolle. Meister Eckhart ruft dazu auf, sich selbst und die ganze Welt zu ‚lassen‘. In seiner Predigt ‚Von der Gelassenheit‘ zitiert er Jesus: „Niemand hört mein Wort noch meine Lehre, er habe denn sich selber gelassen.“ Hier und jetzt kann und soll der Mensch über das Lassen und Verlassen zur Gelassenheit gelangen und zur Einheit mit Gott.
‚Lassen‘ ist eine Erfahrung, die nicht nur christliche Mystiker gemacht haben. Sie findet auch heute tausendfach statt. Ein Zen-Freund schreibt mir:
„Wir sind im Urlaub am Meer. Das Haus liegt in einem Wäldchen in den Dünen. Ein Platz unter Bäumen, weiches Moos unter den Knien, lädt zum Zazen ein. Ich sitze viel und intensiv ohne Zeitvorgabe. Oft bleibe ich auch nach dem Zazen noch sitzen und lausche und schaue und fühle in die Natur. Inmitten der Wiese nehme ich einen zarten, schon braunen Grashalm wahr. Im Wind wiegt er sich hin und her. Seine Tage als Grashalm sind gezählt. Mit einem Schlag wird mir alles klar. Ich spüre es durch und durch. Der Auszug meiner Tochter konfrontiert mich als kleines Ich unmittelbar mit dem Loslassen-Müssen. Ich werde älter. Eine jüngere Generation übernimmt. Alles ist endlich. Ich als kleines Ich bin endlich. Ich als kleines Ich habe Angst davor. Daher rühren die Blockaden. Ein kurzer Gedanke ‚Der Grashalm hat bestimmt keine Angst‘ lässt mich schmunzeln. Und mit einem Mal spüre ich eine enorme Energie und tiefe Freude, die mich erfüllt. Mit meinem ganzen Sein spüre ich das ‚Ganze‘ dahinter, in dem es weder Raum noch Zeit gibt, keine Projekte, keinen Grashalm, kein Ich, das aber zugleich all dies hervorbringt und sein lässt.“
Gelassen im japanischen Kontext
Als Japanologin forsche ich gerne nach, wie ein Wort im Chinesischen oder Japanischen heißt. Ich frage mich, ob das Wort ‚gelassen‘ aus dem Buddhismus kommt. Im Alltagsgebrauch gibt es kein japanisches Wort für gelassen mit buddhistischem Hintergrund. Doch in einem Buch über den Ursprung von Zen-Begriffen werde ich fündig. Es ist das Wort ‚buji‘, das aus den chinesischen Zeichen für ‚nichts‘ und ‚Sache‘ zusammengesetzt ist. Wörtlich könnte man sagen: „Keine Sache (haftet an).“ Heute bedeutet es im Japanischen einfach ‚sorglos, wohlbehalten, gesund‘. Der Zen-Mönch und Autor Masuno Shunmyo führt es aber auf ältere Wurzeln zurück: „Buji bedeutet, sich von nichts und niemandem aus der Ruhe bringen lassen.“
Buji bedeutet in alten buddhistischen Schriften, sich aus der Welt des Leidens befreit zu haben. Es bedeutet eine Seinsweise, in der man an nichts mehr anhaftet und es keine Abhängigkeiten und Hindernisse gibt – in buddhistischer Terminologie: zur wahren Natur des ursprünglichen Menschen durchgestoßen zu sein. Hier schließt sich der Kreis zur Aussage Meister Eckharts: sich selbst und die ganze Welt zu ‚lassen‘.
Das ist Gelassenheit in letzter Konsequenz.
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