Alle Religionsoberhäupter sind weiblich, in der Regierung sitzen in den wichtigsten Positionen nur Frauen und an der Börse dasselbe Bild. Ein Gedankenspiel als Schlüssel zum Umgehen mit Unterschieden.
„Stellen Sie sich vor, Sie sind ein Mann …“ Im März 1993 leitete ich auf der 1. Internationalen Konferenz Westlicher Lehrer und Lehrerinnen mit dem Dalai Lama in Dharamsala eine Meditation. Darin führte ich die 21 Teilnehmerinnen, die sich überwiegend männlich definierten, in eine buddhistische Welt ein. Mit einer weiblichen Dalai Lama, inspiriert von einer weiblichen Buddha-Tara, klugen und gelehrten Nonnen, Zenmeisterinnen und tantrischen Yoginis, die sich von ihren männlichen Schülern gerne bei der Entfaltung ihrer Kundalini-Kraft unterstützen lassen. Erstaunte Gesichter und offene Münder waren das eine, tiefe Einsichten das andere. Einige meiner männlichen Kollegen sagten mir, sie hätten zum ersten Mal verstanden, warum sich Frauen in buddhistischen Seminaren, und allgemein in Gesellschaft und Politik, immer wieder als Menschen zweiter Klasse fühlen. Seit 38 Jahren ist diese Übung mein Schlüssel zum Umgehen mit Differenz – mit Alter und Geschlecht, Herkunft und Schicht, Kultur und Religion – und ihren Folgen.
Wenn ich mir nicht sicher bin, wie ich eine bestimmte Art der Arbeitsteilung oder Rollenzuschreibung einschätzen soll, spiele ich verkehrte Welt. Ich tausche, jetzt am Beispiel von Frauen und Männern, das Geschlecht in einer Aussage aus. Wenn es dann noch angemessen ist, akzeptiere ich die Situation. Beides, das biologische Geschlecht und die kulturellen Zuschreibungen, prägt unser Selbstbild. Viele Menschen meiner Generation, ich bin 1949 geboren und habe 1968 Abitur gemacht, haben den Spielraum durch das Hinterfragen von Rollenbildern geschätzt und genutzt. Wir können tatsächlich lernen, uns „mit Menschen im Plural“ über die gemeinsame Welt auszutauschen und zu verhandeln, wie wir leben wollen. Das ist Hannah Arends Definition von Politik.
Sechs Beziehungen und eine Einsicht
Was haben Politik und Buddhismus miteinander zu tun? Ich möchte das am Beispiel der Begegnung von Frauen und Männern erläutern und dann auf andere Unterschiede eingehen. Ich nenne mein Modell „Sechs Arten von Beziehungen und eine Einsicht“. Darin fasse ich buddhistische Aussagen über Lehren und Lernen und die Aussagen zu Leerheit und bedingtem Entstehen zusammen. Wenn wir ein stabiles und flexibles Selbstbild entwickeln möchten, brauchen wir zuerst die Einsicht, dass jede Art von Identität bedingt entsteht und sehr komplex ist. Es gibt nicht die wahre einzige Identität. Wir sind immer viele. Damit wir das aushalten, brauchen wir sechs Arten von Beziehungen, drei zum eigenen und drei zum anderen Geschlecht: auf Augenhöhe, als Vorbilder und als Bilder des Erwachens im eigenen Geschlecht. Die dritte Art von Beziehungen scheint vielen modernen Menschen überflüssig. Sie meinen, es reiche, als Kosmopolitin oder Weltbürgerin in dieser Welt zu leben, ohne sich mit Herkunft und Geschlecht zu belasten. Dazu gleich mehr. Als Frauen brauchen wir erstens Beziehungen auf Augenhöhe mit Gleichaltrigen, mit Frauen derselben Generation. Zweitens brauchen wir weibliche Vorbilder, dann lernen wir, Frauen und damit auch uns selbst Kompetenz zuzuschreiben. Und drittens brauchen wir ein Bild des Erwachens im eigenen Geschlecht. Die gleichen Beziehungen benötigen wir dann noch einmal mit Männern. So kommen wir auf die sechs Beziehungen, um ein stabiles und flexibles Selbstbild entwickeln zu können.
Buddha oder Jesus Christus waren sicherlich wunderbare Menschen, aber das reicht nicht. Ich vermute, dass die „Gottesmutter Maria“ genau aus diesem Grund viel mehr verehrt wurde und zum Teil auch heute noch mehr verehrt wird, als es theologisch angemessen ist. Warum? Weil sie Frauen hilft, über ihre engen Selbstbilder hinauszuwachsen. Ich drehe damit die These von Ludwig Feuerbach um, der mit seiner Aussage „Der Mensch braucht einen Gott, um ganz Mensch zu werden“ alle Gottesbilder auf die Projektion menschlicher Wünsche und Ideale zurückführen wollte. Ich halte mit der französischen Psychoanalytikerin und Philosophin Luce Irigaray ein weibliches Göttliches für einen „Horizont, der uns hilft zu werden“.
Beziehung zum eigenen und zum anderen Geschlecht
Die Grüne Tara wird in der tibetischen Tradition als Verkörperung des klugen Handelns aller Buddhas verehrt und zusammen mit der höchsten Weisheit Prajnaparamita „Mutter aller Buddhas“ genannt. Ich übe ihre Praxis seit 1977 und sie hilft mir immer wieder, alle begrenzten Selbstbilder zu erkennen und loszulassen. Seit über 35 Jahren unterrichte ich buddhistische Lehren und Übungen und gebe auch die Praxis der Grünen Tara weiter, vor allem an Frauen, aber auch an Männer. Viele Frauen, die die Grüne Tara durch mich kennengelernt haben und sie in der einen oder anderen Form üben, betonen immer wieder, wie sehr sie diese Praxis in Zeiten des Umbruchs und auch in dieser seltsamen Coronapandemie trägt und sie dazu inspiriert, das Beste aus diesen schwierigen Zeiten zu machen.
Meine These ist: Erst wenn Frauen tragfähige Beziehungen zum eigenen Geschlecht in diesen drei Dimensionen – Augenhöhe, Vorbilder und „Göttin“ – haben, gibt es einen Ort, von dem aus sie dem anderen Geschlecht in drei Arten von Beziehungen liebevoll und kraftvoll begegnen können: Freunden, Vorbildern und einem männlichen Gott oder Buddha. Auch männliche Kursteilnehmer halten diese drei Arten von Beziehungen zum eigenen und anderen Geschlecht für wichtig. Wir schauen dann, welche Beziehungen da sind und was wem fehlt. Frauen haben in der Regel Freundinnen und meist eher wenige weibliche Vorbilder und nur selten eine Göttin als Horizont und Inspiration. Die Ausnahme sind Frauen mit einer entspannten katholischen Kindheit mit Marienliedern und ein paar Feministinnen, die sich mit matriarchalen Kulturen und Jahreskreisfesten beschäftigt haben. Viele Männer sind eher mit Frauen befreundet, denn mit denen könnten sie gut reden. Sie haben oft keine oder nur wenige Freunde, aber meist männliche Vorbilder, Ausbilder oder Doktorväter und natürlich Gottvater und Jesus Christus und seine Apostel als transzendente Bezugspunkte, falls das überhaupt eine Rolle spielt.
Meine Empfehlung an Frauen und Männer ist einfach: Pflegt die Beziehungen, die fehlen, und schaut, wie sich das auf die Beziehungen zum anderen Geschlecht auswirkt. Das Thema bleibt aktuell und immer wieder hinterfragen wir Geschlechterrollen und experimentieren mit unseren Selbst- und Fremdbildern.
Dieser Artikel erschien in der Ursache\Wirkung №. 116: „Leben, lieben, lachen"
Kultur und Identität
Ich habe rund zwanzig Jahre, von 1973 bis 1993, Deutsch als Fremdsprache unterrichtet, mit zum Teil fünfzehn Nationalitäten in einem Kurs, aus Ost- und Südeuropa, aus der Türkei, Afrika und Asien. Mit diesen Erfahrungen im Hintergrund habe ich mein Modell um das Element Herkunft erweitert. Frauen und Männer mit Migrationshintergrund entwickeln ein stabileres und flexibleres Selbstbild, wenn sie guten Kontakt auf Augenhöhe zu Menschen aus ihrem Herkunftsland und zu beruflichen oder kulturellen Vorbildern sowie eine religiöse Praxis haben. Meine Erfahrung lehrt mich: Wer tragfähige Beziehungen zur eigenen Kultur in diesen drei Dimensionen hat, ist offener und selbstbewusster in der Begegnung mit Deutschen und Menschen aus anderen Kulturen. Zum Abschluss: Ich vermute, dass das Thema Diversität konstruktiver reflektiert werden kann, wenn beide Seiten – Frauen und Männer und Menschen, die sich als divers identifizieren – Beziehungen zur eigenen diversen Identität in allen drei Dimensionen pflegen und zu Menschen, die sich anders definieren. In diesem Sinne wünsche ich uns allen genug Offenheit, Klarheit und Feinfühligkeit, um konstruktiv mit Unterschieden umzugehen, ohne die Gemeinsamkeiten zu übersehen. Denn die gibt es auch. Wir sind alle Menschen und wollen glücklich sein und nicht leiden. Und ein spielerisches Umgehen mit Geschlechterrollen und Identitäten erleichtert das Leben. Ich bin viele. Kosmopolitisch zu sein, reicht mir nicht. Damit ich eine Zukunft habe, brauche ich auch Herkunft. Und dazu gehört auch der Schwarzwald, meine katholische Kindheit, mein Frausein und vieles mehr.
Sylvia Wetzel ist buddhistische Meditationslehrerin, Autorin und Pionierin des Buddhismus im Westen.
Tipp zur Vertiefung: Sylvia Wetzel, Das Herz des Lotos. Frauen und Buddhismus. edition steinrich 2018.
Bild Teaser & Header © Pixabay