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Leben

Sensorische Integration unterstützt Kinder, bei denen die Reaktionen auf Sinneseindrücke zu stark oder zu schwach sind.

Fragt man Erwachsene danach, welche Sinne sie haben, antworten sie meist in dieser Abfolge: Sehen – Hören – Riechen – Schmecken – Tasten. Menschen haben ja fünf Sinne, oder?

Erwachsene sind sich in erster Linie der Fernsinne bewusst, also jener Sinne, die sie über die Außenwelt informieren. Die Nahsinne hingegen arbeiten so automatisch und unbewusst, dass man sie gar nicht wahrnimmt. Die Theorie der Sensorischen Integration (SI) hebt aber gerade die Bedeutung der Nahsinne, vor allem in der kindlichen Entwicklung, hervor.

Der Berührungssinn und Tastsinn oder taktile Sinn gibt Auskunft über passive Berührungen und über das aktive Tasten. Man unterteilt in das Schutzsystem, das bei möglicher Gefahr alarmiert, und das Tastsystem, mit dem man Dinge erforschen, begreifen und manipulieren kann. Kleinkinder tun das mit dem Mund und den Händen. Wenn das Gehirn Sinnesinformationen gut verarbeitet, haben Kinder im Alter von etwa fünf Jahren genug Informationen zu Alltagsgegenständen gesammelt und gespeichert. Dann reicht es aus, dass sie ein Objekt sehen, um zu wissen, wie es sich anfühlt – glatt, rau, kalt – und wie schwer es ist.

Der Gleichgewichtssinn oder vestibuläre Sinn spricht auf Schwerkraftreize und Bewegung im Raum an. Er hat viel weitreichendere Funktionen als gemeinhin bekannt: Er hat einen wesentlichen Einfluss auf den Wachzustand und damit auf die Aufmerksamkeit, auf Aufrichtung, Haltung und Balance. Er liefert Grundlagen für das Zusammenspiel beider Körperseiten, die Entwicklung der Händigkeit, das Sequenzieren und für das räumliche Vorstellungsvermögen. Intuitiv wissen die Menschen von den Funktionen des Gleichgewichtssinnes, denn niemand würde mit einem Säugling herumtanzen, um ihn zum Schlafen zu bringen.

Der am wenigsten bekannte Sinn ist der Kraft- und Bewegungssinn oder propriozeptive Sinn. Er liefert Informationen aus Muskeln und Gelenken über die Stellung der Körperteile und die Spannung der Muskeln. Darüber erfährt man etwas über das Maß der Anstrengung und das Gewicht oder den Widerstand von Objekten. Dieser Sinn verarbeitet Informationen völlig unbewusst, und wir nutzen diese ganz automatisch. Er hilft, alle Bewegungen auszuführen, ohne sie mit den Augen überwachen und steuern zu müssen: Löffel oder Zahnbürste gezielt zum Mund führen, den Hemdkragen im Nacken richten, einen Zopf flechten – all diese Tätigkeiten kann man dank der Propriozeption auch ohne visuelle Kontrolle gezielt ausführen.

Es war die kalifornische Ergotherapeutin und Psychologin Dr. Jean Ayres, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Theorie der Sensorischen Integration wissenschaftlich entwickelte. Als Ergotherapeutin betrachtete sie Menschen unter dem Aspekt der Handlungsfähigkeit, der sinnvollen Betätigung. Es interessierte sie, warum manche Kinder trotz normaler Intelligenz Schwierigkeiten in der Alltagsbewältigung haben, etwa was die Selbstständigkeit betrifft oder die Teilnahme am Schulunterricht.

In ihrer dreißigjährigen Forschungstätigkeit erforschte Ayres, wie die Sinnesverarbeitung mit Emotionen, Lernen und Verhalten zusammenhängt. „Die Verhaltensweisen und die Lernfähigkeit Ihres Kindes“, meint Ayres „sind der sichtbare Ausdruck unsichtbarer Aktivitäten in seinem Nervensystem. Lernen und Verhalten sind sichtbare Aspekte der Wahrnehmungsverarbeitung von Sinnesreizen.“ 

Nach Ayres sind die ersten sieben Lebensjahre von besonderer Bedeutung für die Entwicklung der Sensorischen Integration. „In den ersten sieben Jahren lernt ein Kind, seinen Körper und seine Umwelt zu erfühlen, es lernt, sich aufzurichten und sinnvoll zu bewegen.“

Kinder

 

Sensorische Integrationsstörungen

Bei sechs bis fünfzehn Prozent der Kinder funktioniert die Sinnesverarbeitung nicht optimal. Ob sie sehr empfindlich oder unempfindlich sind und wie exakt ihr Gehirn die Informationen aus den einzelnen Sinnen entschlüsseln und zu einem Ganzen zusammensetzen kann, hat Einfluss auf ihr emotionales Gleichgewicht und Selbstwertgefühl, aber auch auf ihr Verhalten und ihre Lernfähigkeit in verschiedenen Bereichen, etwa dem motorischen Lernen, sozialen Lernen, Spracherwerb und dem schulischen Lernen. Selbst für die Lieblingsbeschäftigungen und spätere Berufswahl spielt die Art, wie die Sinne arbeiten, eine Rolle.

Wir alle kennen Kinder, die „irgendwie anders“ sind. Sie können ihren Alltags schwerer bewältigen als andere. Sie sehen wie normale Kinder aus, deshalb denken Außenstehende oft, dass sie sich absichtlich „anders“ verhalten oder dass sie einfach unerzogen sind. Beides trifft bei Kindern mit Störungen der Sensorischen Integration nicht zu.

Als Ergotherapeutin frage ich immer: „Warum?“ Warum verweigert Lenz es, mit Fingerfarben zu malen? Warum ist Jana so schüchtern? Warum traut sich Tobi so wenig zu? Warum ist Maxi so ungestüm und nimmt keine Rücksicht auf andere Kinder? Könnte es mit ihrer individuellen Art, Sinnesinformationen zu verarbeiten, zusammenhängen?

Allein damit, dass wir diesen Kindern mit Verständnis begegnen und ihre Bedürfnisse und Abneigungen respektieren, statt sie aufzufordern, sich „normal“ zu verhalten, lässt ihre Entwicklung positiv beeinflussen. Das Elternhaus sollte kein Ort sein, wo zusätzlich Druck gemacht wird, sondern ein Raum, der Verständnis, Sicherheit und das Gefühl vermittelt, geliebt zu sein.

Hat das Kind deutliche Schwierigkeiten in der Alltagsbewältigung, sollte es einer Ergotherapeutin, die auf SI spezialisiert ist, vorgestellt werden. Professionelle Praxen wie das SpielStudio bieten auch Beratungsgespräche online an. Der Punkt, zu dem alle beitragen können, ist die Gestaltung einer förderlichen Umwelt für die betroffenen Kinder, zum Beispiel indem man Aktivitäten und Räume anpasst, Rückzugsbereiche schafft, Hilfsmittel zur Verfügung stellt wie einen Sitzball oder Stiftgriff. Auch passende Hobbys tragen dazu bei, dem Kind Erfolgserlebnisse zu ermöglichen. Die Ergotherapeutin berät individuell und gibt Tipps für solche Alltagsstrategien und überwacht ihre Wirksamkeit.


Dieser Artikel erschien in der Ursache\Wirkung №. 121: „Mit allen Sinnen"

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Elisabeth Söchting ist Ergotherapeuten und Psychologin in Wien. Sie ist international bekannte Expertin für Ayres’ Sensorische Integration und betreibt drei Praxen und das SI-SeminarInstitut in Wien. Sie unterrichtet SI weltweit.www.sensorische-integration.orgwww.seminarinstitut.com

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