Warum wir mehr sind als Biologie und Umwelt. Warum unser Geist nicht das Gehirn allein ist. Und warum unser Bewusstsein zugleich Ursprung und Realität unserer Welt ist.
Wenn es um grundlegende Fragen des Menschseins geht, hat man heute dort schnell die Biologie zur Hand, wo einst die Theologie zuständig war. Man denkt vielleicht: homo sapiens, letztes Glied der Evolution, höheres Tier, Überlebenskampf oder so etwas. Doch wenn man Schemata wie Überlebenskampf an die Natur heranträgt, findet man, was man voraussetzt, und wird blind dafür, dass Kampf nur eine von vielen Lebenserscheinungen neben Kooperation oder spielerischer Lebenslust ist. Man übersieht auch, dass Menschen keine Überlebenskämpfer sind, sondern fühlende, schöpferische Wesen, die Glück, Gemeinschaft und Sinn suchen und nützlich sein wollen. Viele biologische Erklärungsversuche menschlichen Tuns haben hier ein Defizit. Ein gängiges Denkschema evolutionärer Ansätze unterstellt etwa, dass ‚überlebensdienliche' Verhaltensweisen unserer Urahnen irgendwie in deren Gene gelangt seien und begründet damit unser heutiges Verhalten. Doch Gene erzeugen Proteine, nicht Verhalten. Man könnte dann fragen, weshalb die Urahnen taten, was sie taten. Vielleicht wegen der Gene ihrer Urahnen? Eine Kette ohne Anfang. Schon in der Steinzeit beschäftigten sich Menschen mit Kunst und Mathematik. Sie taten genau wie wir, was ihnen sinnvoll erschien.
Wenn wir verstehen wollen, wer wir sind, sollten wir deshalb bei uns bleiben und uns nicht mit vermeintlich objektiven, aber Wandel und Moden unterworfenen populärwissenschaftlichen Modellen identifizieren. Was ist hier und jetzt? Was sind wir für Wesen, die Ich sagen und Modelle von sich und der Welt machen? Schauen wir also aus der Perspektive der ersten Person den Ursprung unserer Selbst- und Welterfahrung an. Wir können alles, was wir erleben, infrage stellen, nur nicht das Erleben selbst. Sobald wir das Vorurteil einer materiellen Außenwelt loslassen, werden all unsere inneren und äußeren Erlebnisse zu Phänomenen im offenen Horizont unseres Bewusstseins. Alles, was ist, ist Bewusstsein von etwas. Alles, was geschieht, ist in uns Erlebtes, ob Gedanke, Gefühl, Mitwesen oder Ding. Die Welt ist in uns und jetzt. Alles, was es zu verstehen gibt, ist da. Unser Bewusstsein liegt allem zugrunde. Es ist nicht aus materiellen Elementen entstanden, schon diese sind gedankliche Hervorbringungen. Wir können es nicht begründen, nur beschreibend erkunden.
Genau das tut die Phänomenologie, die Wissenschaft vom Bewusstsein und seinen Erscheinungen, begründet durch Edmund Husserl. Auch der Buddhismus beinhaltet eine Phänomenologie. Beide zeigen durch genaue Analysen der Bewusstseinsprozesse, dass es keine vom Erleber unabhängigen Dinge gibt. Wir leben in einem rein subjektiven Raum, und es gibt keine andere Welt außerhalb dieses Horizonts. Was wir objektiv nennen, ist als Common Sense die gegenseitige Abstimmung vieler subjektiver Beobachtungen zu einer Perspektive dritter Person. Man teilt Erfahrungen miteinander und gibt ihnen Namen. Für Erwachsene haben z.B. Zahlen objektive Bedeutung, ein Kleinkind erkennt sie gar nicht. Selbst, was wir Natur nennen, ist Objekt unseres Bewusstseins. Eine objektive, von niemandem erlebte Welt ist eine Fiktion, sie existiert nicht. Ein Regenbogen entspringt am Ort des Betrachters aus Regentropfen, Licht und sehenden Augen. Ohne Sehenden kein Regenbogen und keine Welt. Bewusstsein und Welt bringen sich gegenseitig hervor. Der Buddhismus spricht vom abhängigen Entstehen und der Leerheit der Phänomene einer Substanz.
Die Perspektiven erster und dritter Person sind niemals austauschbar. Wir hören die schöne Stimme eines geliebten Menschen und nicht Schallwellen. Wir haben Gedanken und keine Neuronenimpulse. Wir wurden nicht aus Molekülen zusammengesetzt, sondern Moleküle sind unsere Konzepte. Der Zustand des Bewusstseins, sich selbst nicht zu erkennen und darum eine von ihm unabhängige Welt anzunehmen, gilt buddhistisch als Unwissenheit und die Idee, der Geist sei das Gehirn, als Meditationshindernis.
Fühlen Sie einmal, wie Sie sich selbst erfahren. Ihre Wärme, Ihren Atem, irgendwo ein paar Gedanken, Ihre Stimmung, vielleicht ein Jucken, eine Spannung irgendwo... Sie können mit Ihrer Aufmerksamkeit die Oberfläche des Körpers spüren, tiefer in sein Dunkel eindringen oder in die Welt hinauswandern. Die Grenze zur Welt ist irgendwie offen, es ist eine gefühlte Grenze. Wir bewohnen den ganzen Körper, unser Bewusstsein ist kein Kasten in einem Organ. Der von uns selbst erfahrene Körper ist ein Teilraum unseres gesamten Bewusstseinshorizontes. Das bedeutet: Nicht das Bewusstsein ist im Körper, vielmehr ist der Körper im Bewusstsein. Wir bewohnen ein subjektives Sinn-Universum, einen Raum der Phänomene, keinen physikalischen. Es zählt, wie wir die Welt erleben. Und das ist höchst individuell.
Evolution, Sozialisation und Gesellschaft. Aus anthropologischer Sicht ist es das Kennzeichen des Menschen, dass er nicht durch Erbanlagen festgelegt, sondern weltoffen ist. Der Mensch ist quasi ein hilfloses, nacktes, zu früh geborenes Tier, das einen großen Teil seiner Entwicklung außerhalb des Mutterleibes in einer Art sozialem Uterus bei seinen Mitmenschen verbringt. Jedes Individuum erfindet sich in Gesellschaft neu. Dass sich familiäre Körpermerkmale erhalten, ist selbstverständlich, da die absteigende Linie Mischungen des Ursprungsmaterials darstellt. Doch unser konkretes Verhalten kann nicht genetisch programmiert sein, weil wir subjektiv, situativ, flexibel und kreativ handeln. Die Hand ist vererbt, aber nicht, was sie tut. Schon rein statistisch könnten alle Aminosäurekombinationen unseres Genoms nicht mal einen Bruchteil der Neuronen unseres Hirns erzeugen. Das Nervensystem strukturiert sich im lebendigen Austausch. Es wird sozial konstruiert. Dieses Phänomen ist als Neuroplastizität bekannt. Wir sind also buchstäblich die Verkörperung unserer Erfahrungen und ihrer Ausgestaltung. Die Säuglingsforschung hat gezeigt, dass wir von Anfang an aktiv und kreativ nach Zuwendung, Austausch und Neuem suchen. Das Leben drängt von selbst nach Erweiterung und braucht dazu den Schutz und das Mitgefühl der Eltern. Wenn diese neurotisch sind und die Lebendigkeit des Sprösslings als bedrohlich erleben, wird oft auch das Kind neurotisch. Die familiäre Häufung bestimmter psychologischer Phänomene hat darum meist nichts mit genetischer Vererbung zu tun. In den Armen der Eltern beginnt die soziale Vererbung. Soziale Vererbung ist keine schuldhafte oder einseitige Einwirkung. Buddhistisch gesehen passt jede Existenz zu früher selbst gesetzten Ursachen. Ein Ich erschafft sich darin aktiv am Du. Das Du sind Mitmenschen, in deren Augen wir uns spiegeln und die uns zeigen, was wir fühlen, wer wir sind und wer nicht. Ein sicherer Vertrauensraum der lebendigen Selbsterfahrung begünstigt das Entstehen eines zugleich tragfähigen und offenen Ich, als strömende Form der Identität. Misslingt dies, können Egozentrik, Neurosen oder Psychosen entstehen. Unsere frühen Interaktionserfahrungen mit Eltern, Geschwistern und relevanten Bezugspersonen verallgemeinern wir zu inneren Bildern von uns selbst. Weder Gene noch Umwelt prägen uns wie Münzen. Wir sind aktive Schöpfer und benutzen alles Vorgefundene zielgerichtet als Baumaterial für unser Leben, je nach unseren Tendenzen. Mir erzählte einmal eine Kindergärtnerin, dass sie ein hinkendes Mädchen in ihrer Gruppe hatte, das eigentlich völlig gesund war. Als sie sah, dass dessen Mutter hinkte, verstand sie: Das Mädchen hatte sich mit ihr so identifiziert, dass es glaubte, auch hinken zu müssen! Hier mischen sich Solidarität und Selbstbehinderung, doch wir erkennen die Spontaneität von Mitgefühl und Loyalität.
Im Leben sind von Anfang an andere Menschen da. Beziehungen, Kultur und Sprache sind wie Wasser, das uns ernährt und in dem wir schwimmen. Wir schöpfen alle Inhalte unseres Lebens aus diesem Reservoir, das tief in die Vergangenheit reicht und das wir mit Zeitgenossen und Vorfahren teilen. Man kann z.B. in phänomenologischen Familienaufstellungen erleben, wie längst Verstorbene noch als innere Bilder wirksam sind. So öffnen sich buchstäblich neue Horizonte im subjektiven Feld.
Tiefenpsychologie und Verantwortung. Raum und Zeit entspringen an der Position des Sehenden, sind nicht überschaubar, ins Unendliche offen und verändern fließend ihre Grenzen, hinter denen sich Unvorhersehbares öffnet. Ich weiß nicht, was ich in einer Minute erlebe oder hinter der nächsten Ecke sehe. Jeder Wahrnehmungsakt hebt wie ein Lichtstrahl etwas aus dem unendlichen Welthorizont heraus und erzeugt zugleich einen ‚schlafenden' Hintergrund des Unbeachteten. Unser Gewahrsein ist beinahe immer begrenzt. Phänomenologisch ist aber alles, was eine Wirkung hat, auch erfahrbar, also bewusstseinsfähig. Es gibt demnach kein unzugängliches Unbewusstes im strengen Sinn, das Gewahrsein ändert sich ständig, Unerkanntes wird bewusst, Bewusstes wird vergessen. Was im Dunkeln bleibt und was nicht, bestimmen Situation, Gewohnheit, Gefühle oder etwa ein ängstliches Ego statt eines reifen, offenen Ich. Die Individualpsychologie spricht darum statt vom Unbewussten vom Unverstandenen, das prinzipiell in Verstandenes verwandelt werden kann. Das ist natürlich ein strömender Prozess, kein starrer Zustand. Wir können die Vorgänge im eigenen Geist ansehen lernen, wie sie sind. Kann einer das jederzeit und ohne Anhaftung oder Ablehnung, ist er ein ganz Erwachsener, ein Erwachter, ein Buddha.
Der Buddhismus sagt, der ursprüngliche Zustand des Bewusstseins ist klar, mitfühlend, freudvoll und furchtlos. Er muss nicht erzeugt werden, sondern ist ewig da, wie ein Diamant unter der Schicht aller Störgefühle. Das können wir in lebendiger Selbstentwicklung real erfahren. Jede echte Einsicht belebt, erleichtert und öffnet letztlich, das ist geradezu ein Indikator für den richtigen Weg, auch in der Beratung. Lebendigkeit und Freude entspringen spontan aus einem unverkrampften Bewusstsein. Man kann sie nicht herstellen, sie erscheinen, wenn wir gewohnheitsmäßige Selbstbehinderungen erkennen und loslassen.
Ich bin immer derjenige, der den ganzen Körperraum bewohnt, mit all seinen widerstrebenden Tendenzen, Gedanken, Gefühlen und Zielen. Ich bin der, der das alles erlebt und zusammenhält, ich bin der innere Zeuge, der bei allem dabei ist und immer da war. Als unteilbares Subjekt sitze ich nicht in einem Organ. Ich bin nicht das Gehirn, sondern das Ganze, das Körper, Geburt, Leben, Tod und Wiedergeburt einschließt. Das Gehirn ist weder das Zentrum meiner Existenz noch ein zweites Subjekt in mir. Das ist ein logischer Kurzschluss der Perspektiven erster und dritter Person. Selbst wenn es widersprüchliche Strebungen in mir gibt, erlebe ich diese in einem einzigen umfassenden Raum. Ich zerfalle nicht in getrennte Subjekte. Nicht das Gehirn bestimmt, was ich tue, ich bestimme, was das Gehirn tut, auch wenn spontane Impulse meinem bewussten Wollen vorausgehen. Das Leben strömt ununterbrochen, wir können uns von ihm tragen lassen und es zugleich in die Hand nehmen und verändern. Jede Handlung entspringt in uns und bewirkt etwas im Feld. Deshalb müssen wir ausnahmslos Verantwortung übernehmen, über das vergängliche, beschränkte Ego hinaus. Wissenschaft, die uns diese Verantwortung abspricht und uns zu neuronalen Maschinen erklärt, vergisst ihren eigenen Ursprung im Geist. Es führt kein Weg an Selbstverantwortung vorbei. Es gibt nämlich keine Autorität, die anders wäre als wir. Wir können uns mitfühlend ansehen und annehmen: Ja, das bin ich. Ein unwiederholbarer, stets strömender Horizont auf dem Weg, sich zu erkennen. Genau wie die anderen.
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