Elizabeth Gilbert erzählt in dem Buch über ihr Leben als 30-Jährige: Liz hat alles, was eine gebildete amerikanische Frau haben muss: einen guten Job, einen Ehemann, ein schönes Haus und gute Freunde. Dennoch wird ihr bewusst, dass sie ein Leben führt, das nicht ihren Bedürfnissen und Wünschen entspricht.
Seit Jahren erfüllt sie fremde Erwartungen und ihr Verhalten ist geprägt von sozialen Vorstellungen. Sie macht sich auf die Suche nach seelischer und spiritueller Heilung. Geschieden und unglücklich lässt sie ihr bisheriges Leben hinter sich und geht ein Jahr lang auf Reisen. Zuerst nach Italien, wegen des angenehmen Lebensgefühles, dann nach Indien zur spirituellen Erweiterung und schließlich nach Bali, um beides miteinander zu verbinden.
Was hindert uns daran, uns selbst zu verwirklichen? Die Gestalttherapie nennt als Haupthindernis, dass wir eine Vorstellung von uns leben wollen. Das Leben wird damit dem Versuch geopfert, das Bild zu verwirklichen, wie wir glauben, sein zu sollen. Dieses Ich-Ideal ist ein Zukunftsentwurf und wenn diese Erwartungen zu weit von der eigenen Realität entfernt sind, kann etwa wie bei Liz eine angespannte Situation mit depressiven Einbrüchen entstehen. Weil wir uns abmühen, so zu werden, wie wir gerne sein möchten oder wie andere uns gerne hätten, verlieren wir den Kontakt zu unserem gegenwärtigen Gefühl, zu dem uns entsprechenden Weg.
In der Selbstverwirklichung geht es nun darum, das zu verwirklichen, was in uns angelegt ist. In jedem von uns ist eine Kraft (das personale Selbst), die unsere Entwicklung fördern und unterstützen kann, wenn der Zugang dahin nicht blockiert ist.
Der bekannte Psychotherapeut Donald Woods Winnicott führte gemeinsam mit Kollegen zum besseren Verständnis therapeutischer Prozesse die Begriffe ‚wahres Selbst' und ‚falsches Selbst' ein.
Unter ‚falschem Selbst' verstehen sie die Fassade oder die ‚Als-ob-Persönlichkeit', das sozialisierte Selbst, das durch überstarke Anpassung an Rollenerwartungen auf Kosten der eigenen stabilen Identität entstanden ist. Man kann sich dieses wie einen Panzer vorstellen, der das Selbst schützen will. Dieser Panzer ist durch chronische seelische Verletzungen entstanden. Dadurch frieren wir Gefühle ein, verschließen uns, um dieses seelische Leid nicht noch einmal erleben zu müssen.
Wodurch entstehen solche ‚Panzer'?
Oft sind es seelische Verletzungen, die durch schwierige Sozialisationserfahrungen entstanden sind, wie etwa zu wenig fürsorgliche Eltern. Denn zur Entwicklung seiner emotionalen, kognitiven und sozialen Fähigkeiten braucht man das ‚Entgegenkommen' seiner Mit- und Umwelt. Dieses muss den entwicklungsbedingten Bedürfnissen entsprechen. So braucht etwa ein Säugling liebevolle Berührung und Beruhigung, wohingegen ein älteres Kind vielleicht eine Erklärung benötigt. Fehlt es an Liebe, Geborgenheit und verlässlicher Zuwendung, so kommt es zu Defiziten. Lang anhaltende Defizite im emotionalen und körperlichen Kontakt führen zu mangelnder Selbstbestätigung und verhindern das Entstehen von Vertrauen und Selbstsicherheit. Es entsteht das Gefühl: „Ich bin nichts wert, ich habe keine Berechtigung zu leben, ich kann den Menschen nicht vertrauen." Diese Defizite brauchen Nachbeelterung und Nachnährung in der Psychotherapie sowie im Leben.
Von konflikthaften Ereignissen sprechen wir, wenn dem Menschen etwas passiert ist, das ihn seelisch einschneidend geschädigt hat, wie etwa seelische und körperliche Grausamkeit, Scheidung der Eltern oder Tod eines Elternteils. Dies kann Ängste, Wut, Verwirrung und Hass auf den eigenen Körper auslösen. Da diese Gefühle häufig nicht ausgedrückt werden konnten oder durften, geht es in der Psychotherapie darum, Platz für die unausgedrückten Gefühle zu schaffen.
Wenn es über einen längeren Zeitraum immer wiederkehrende Unstimmigkeiten im sozialen Umfeld eines Menschen gibt, dann sprechen wir von chronischen Konflikten. Dadurch ist die Psyche in einen dauerhaften Spannungszustand versetzt, so dass es nicht mehr möglich ist, Ruhe und inneren Frieden zu finden. Erst wenn diese unbewussten Gefühle und Spannungen aktiviert und ausgedrückt werden, kann sich wieder Entspannung und eine gesunde Lebensbalance einstellen.
Sich selbst zu finden und zu verwirklichen, heißt schließlich, eigene Bedürfnisse wahrzunehmen, ihre Bedeutung zu erfassen und Prioritäten zu setzen, um situationsadäquate Handlungen durchzuführen. Jede/r gibt eigene Antworten auf die Bedingungen des Lebens. Der Religionsphilosoph Martin Buber, der die Gestalttherapie sehr geprägt hat, meint, das Leben sei, wie es sei, aber welche Antwort wir auf die Bedingungen des Lebens geben, das sei unsere ‚Ver-Antwort-ung'.
Das Ziel in unserem Leben ist es, die Verantwortung für das eigene Denken, Empfinden und Handeln zu übernehmen, um seine Möglichkeiten zu wissen und seine Begrenzungen anzuerkennen. Wir erleben uns dann mehr als Wirkende und weniger als Opfer der Umstände.
Das erkennt auch Liz in ihrer Zeit in Italien und findet schließlich den Mut, ihr eigenes Leben zu leben und die Verantwortung dafür zu übernehmen.
Schon in der Bhagavadgita heißt es, es sei besser, sein eigenes Schicksal unvollkommen zu leben, als das Leben eines anderen auf vollkommene Weise nachzuahmen.
Eine Lebensweisheit der Zen-Buddhisten, die Liz in den Sinn kommt:
„Eine Eiche, so sagen sie, werde durch zwei Kräfte gleichzeitig erschaffen. Zum einen natürlich durch die Eichel, mit der alles seinen Anfang nimmt, durch den Samen, der das gesamte Potenzial enthält und zu einem Baum heranwächst. Das ist jedem ersichtlich. Nur wenige aber können erkennen, dass auch noch eine andere Kraft am Werk ist, nämlich der künftige Baum selbst, den es so unbedingt in die Existenz drängt, dass er die Eichel ins Sein zieht, der durch seine Sehnsucht den Sämling aus der Leere zieht und die Evolution aus dem Nichts zur Reife geleitet. So betrachtet, behaupten die Zen-Buddhisten, sei es die Eiche, welche die Eichel erschafft, aus der sie entstanden ist." Die Eichel, die das gesamte Potenzial enthält – dazu findet Liz in dieser Phase Zugang, bejaht es und lebt es. Erst in Indien wird sie mehr und mehr die Kraft der Eiche spüren. Dort verbringt sie die Zeit in einem Ashram. Trotz heftigen Widerstands, den sie gegen so manche Zwänge verspürt, befolgt sie die dort angebotenen spirituellen Übungen und Meditationsanweisungen. Ihre Sehnsucht nach innerem Frieden ist so groß, dass sie sich einem mutigen inneren Kampf stellt, um das alles durchdringende Schweigen kennenzulernen. Jeden Tag zeitig in der Früh wird im Ashram ein Chant, der sich Gurugita nennt, gesungen. Sie kann in dem Singen keinen Sinn erkennen, es erscheint ihr nur langweilig und unerträglich. Eines Morgens sperrt ihre Zimmerkollegin irrtümlich das Zimmer ab und sie ist eingeschlossen. Könnte sie ja froh sein, diesen Morgen nicht zur Gurugita gehen zu müssen! Jedoch klettert sie mühsam durch ein Fenster, um nur ja nicht die Gurugita zu versäumen. Die persönliche Seite ist zwar voller Widerstand und Zorn, aber das transpersonale Selbst (die Eiche) ist stärker.
Sylvester Walch, der die transpersonale Psychotherapie im deutschsprachigen Raum wesentlich mitgeprägt hat, beschreibt in seinem Buch ‚Dimensionen der menschlichen Seele' das transpersonale Selbst folgendermaßen: „Es zeigt sich nicht allein auf die Persönlichkeit bezogen, sondern ist offen hin zum Überpersönlichen. Bildlich gesprochen ist im innersten Kern unserer Persönlichkeit eine Öffnung, durch die das transpersonale Selbst hindurch scheint. Es trägt nach Leibniz den ‚Funken des Kosmos' in sich und kann nach C.G. Jung auch als ‚Gott in uns' bezeichnet werden."
Bereits in Amerika hat Liz im Gebet die Verbindung zu dieser größeren Weisheit und Kraft zum ersten Mal erlebt. Überrascht stellte sie danach fest, dass sie fast immer Zugang zu dieser Stimme finden kann. Sogar im tiefsten Leid ist diese ruhige, mitfühlende und unendlich weise Stimme zu vernehmen. Ist es Gott, ihre Meisterin oder ihr höheres Selbst?
Das Selbst ist immanent, das heißt, es wohnt in jedem von uns, ist also personal; jedoch ist es auch offen zum Überpersönlichen (transpersonal). Das immanente Selbst kann in Verbindung mit dem Transzendenten treten, das über unsere Individualität hinausgeht, Raum- und Zeitgrenzen überschreitet.
Liz beschreibt in ihrem Buch, wie sie in einer tiefen Meditation eine Seelenverbindung zu ihrem geschiedenen Mann aufnimmt: Sie kann nun ihre gemeinsame Geschichte annehmen und sich dadurch mit ihm aussöhnen. Mit der Verzeihung verschwindet die dumpfe Traurigkeit über die Trennung und sie fühlt sich von ihrer Vergangenheit befreit.
Durch das Wiederholen eines Mantras, durch Meditation und bewusstes Atmen können wir uns in eine Empfangshaltung begeben, um das Einströmen dieser transpersonalen Energien in unser Wachbewusstsein zu begünstigen. Dadurch kann uns aus der spirituellen Welt, aus dem transpersonalen Bereich Kraft, Gnade und Liebe zufließen. Mit der Zeit kann es zu einer zunehmenden Interaktion kommen, zu einem inneren Dialog.
Um eine Verbindung zu der inneren Weisheit aufzunehmen, sollten wir einen Raum schaffen, in dem wir dem transpersonalen Selbst unsere Aufmerksamkeit widmen, um seine Hinweise zu empfangen (Ruf der Eiche). Nur allzu leicht macht uns das laute Treiben der Welt dafür taub oder lenkt uns das Lärmen unseres eigenen Verstandes ab. Der Zustand des Schweigens dagegen, der Rückzug nach innen, das Einstimmen auf die Frequenz unserer Seele machen uns hellhörig für innere Botschaften und hellsichtig für innere Bilder.
Patanjali sagt dazu in den Yoga-Sutren:
„Hinter dem Schleier unserer gewöhnlichen Gedanken und Gefühle liegt die ewige Quelle des natürlichen Glücks, der Intelligenz, der Liebe und Güte. Diese ewige Quelle ist das wahre Selbst und die reine Bewusstheit. Darin sind wir nicht länger mit unserem Ego und unserer Geschichte des Lebens identifiziert. Deshalb ist die Beruhigung des Geistes so wichtig."
Ein Beispiel dafür, dass jeder Mensch seinen eigenen Weg zu gehen hat, zeigt uns die Erfahrung, die Liz macht, als sie versucht, den Vorstellungen vom Verhalten eines spirituellen Menschen zu entsprechen:
Ihre Zimmerkollegin hat einen Schweigebutton. Liz ist beeindruckt und meint, auch sie müsste das Schweigen üben. So holt sie sich eines Tages im Buchladen diesen Button. Genau zu diesem Zeitpunkt wird sie aufgefordert, eine amerikanische Gruppe als Chefhostess in die Gewohnheiten des Ashrams einzuführen. Warum darf sie nicht schweigen?
Vermutlich soll sie sich nicht neuen Normen unterwerfen. Ihr Potenzial, gut und leicht kommunizieren zu können, scheint im spirituellen Feld gerade eben gebraucht zu werden. Mit den uns innewohnenden Qualitäten, die wir im besten Fall entwickelt haben, können wir der Welt und anderen Menschen dienen.
Die letzten vier Monate des Jahres verbringt Liz auf Bali. Hier besucht sie einen Heiler und Medizinmann, der ihr bereits vor einem Jahr einschneidende Veränderungen in ihrem Leben vorausgesagt hatte. Anfangs hält sie sich ganz starr an die Meditationsvorgaben, um nicht aus ihrer inneren Balance geworfen zu werden. Erst allmählich gewinnt sie das Vertrauen, dass die innere Kraft in ihr stark genug geworden ist. Sie nimmt wieder am Leben teil und öffnet sich für die Liebe zu dem Brasilianer Felipe.
Am Ende des Buches beschreibt Liz, dass ihre Suche nach Zufriedenheit plötzlich spürbar wird. Sie bekommt eine Vorstellung davon, wie das Ziel ihrer Reise sich anfühlt und dass es ‚erleuchtete Augenblicke' in unserem Leben gibt, in denen diese beiden Kräfte des personalen und transpersonalen Selbst eins werden. Dieses glückliche und ausgeglichene Ich, das jetzt auf dem Deck dieses kleinen indonesischen Fischerboots döst, welches das andere, jüngere, verwirrtere und ringende Ich in all diesen schweren Jahren in die Zukunft gezogen hat. Das jüngere Ich war die Eichel voller Potenzial, aber das ältere, die mächtige Eiche, hat andauernd gedrängt: „Ja, wachse! Verändere dich! Entwickle dich! Komm und triff mich hier, wo ich schon in meiner Reife und Ganzheit existiere! Du musst ich werden!"
Anna Maurer ist Autorin, Psychotherapeutin für Integrative Gestalttherapie, Persönlichkeitscoach, Lehrtherapeutin und Ausbildnerin für Integrative Gestalttherapie an der Sigmund Freud Privatuniversität Wien, Begründerin der IGM-Körpertherapie, Trainerin für Transpersonale Psychotherapie und Holotropes Atmen (ÖATP). www.annamaurer.at