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Leben

Sexualität ist ein primäres Element des Lebens, alle Menschen sind als zwei Geschlechter geboren und jeder ohne Ausnahme muss Antworten auf die Fragen von Liebe und Sexualität finden.

Das ist eine Aufgabe, die im günstigsten Falle alle reifen menschlichen Qualitäten entwickelt, im weniger günstigen Fall zu Notlösungen führt.

„Sexualität (Synonym: Liebe) ist die freiwillige körperlich-seelische gegenseitige Anziehung und Vereinigung von zwei geschlechtsreifen, meist heterosexuellen Menschen mit der Folge einer sich zum Orgasmus steigernden und danach entladenden psycho-physischen Lusterregung und dem de facto oder potentiellen Ziel der Fortpflanzung", schreibt das Handwörterbuch Psychologie (Asanger 1999). Das klingt nüchtern und reduziert, dennoch wird betont, dass es sich um eine ganzheitliche psycho-physische Anziehung und Vereinigung handelt. Man darf menschliche Sexualität nämlich einerseits keinesfalls als einen ‚Trieb' im Sinne einer Biomechanik missverstehen, das ist eine extrem verkürzte Rückübertragung der eigenen biologischen Modelle auf den Menschen. Allein die Tatsache, dass wir bewusst enthaltsam sein können, widerspricht dem.

Sexualität aber andererseits mit ‚Liebe' gleichzusetzen ist aus spiritueller Sicht eine ebenso fehlerhafte Einengung universaler, unbedingter und alle fühlenden Wesen einschließender Liebe. Shamar Rinpoche erinnert uns: „Diese Liebe ist frei von Anhaftung. Es ist nicht die verrückte Leidenschaft des ‚Verliebtseins'. Gemischt mit Emotionalität sind Liebe und Mitgefühl ungeschickt und können zu einem Durcheinander führen." Letzteres ist allerdings das Kernthema vieler Partnerschaften. Sie bewegen sich im Spannungsfeld von starken Gefühlen, Begierde, Sex, offener, selbstloser Liebe und Freiheit.

In verschiedenen Lebensphasen kann Sexualität ganz unterschiedlich wichtig und ausgeformt sein. Sie ist immer Teil der Person und spiegelt ihre Gesamthaltung zu Mitmenschen und Welt. Wir gestalten alles im Leben unseren früher erworbenen Gewohnheiten, Tendenzen und Zielen entsprechend. Sexuelle Energie ist eine Form der universalen Lebensenergie prana. Die konkrete Sexualität aber nimmt die Formen der jeweiligen Charaktere an, die mehr oder weniger befriedigend sein können: Ein Mann, der ängstlich ist, wird eher die Mutter in einer Partnerin suchen und wenig Spaß an der Lust haben; eine Frau, die Männern nicht vertraut, wird Sex vielleicht als Manipulationsmittel einsetzen, und ein Mann, der Frauen hasst, wird sich vielleicht nur bei Prostituierten gut fühlen, die er beherrschen kann. Wie man lebt, so liebt man.

 

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In vielen Kulturen, auch in der unseren, gilt es als Zeichen von psychischer und sozialer Gesundheit, ein erfülltes Sexualleben zu haben. Sex ist Teil der menschlichen Ganzheit und eine Quelle riesiger Freude. Zugleich kann Sex auch zu sehr schweren Problemen führen, vom Missbrauch über Eifersucht, Zorn oder Hass bis zur Abhängigkeit. Darin unterscheidet sich Sexualität in nichts von all den anderen möglichen Erfahrungen und Emotionen: Man kann extreme Anhaftung oder Ablehnung entwickeln oder sie ohne Mitgefühl instrumentalisieren.

Buddha hat für Mönche zahlreiche Gelübde der Enthaltung eingeführt. Er selbst hatte reichlich sexuelle Erfahrung. Für Nicht-Mönche besteht auch keinerlei Notwendigkeit, auf Sexualität zu verzichten. Es geht vielmehr darum, ethisches Verhalten im Sinne der sechs heilsamen Handlungen (paramitas) zu praktizieren.

 

Sex kann ein großes Geschenk und eine heilsame Handlung sein. Enthaltung kann ebenso eine heilsame Handlung sein. Es kommt immer auf die wahren Motive an.

 

Ethisches Handeln impliziert buddhistisch auch, ‚ein reines sexuelles Verhalten zu pflegen' (Gampopa), etwa bestehende Beziehungen zu respektieren. Auch Eifersucht oder Beschränkungen von Freiheit eines Partners erzeugen Leid. Liebe ist ein überpersönliches Geschenk des Lebens an die Partner, kein Besitz und kein Anspruch. Einander achtsam und lustvoll tief zu berühren ist nicht dasselbe wie sich zu umklammern. Wenn man loslässt, sich öffnet und sich vor dem Wunder des Gegenübers verneigen kann, dann strömt Liebe von selbst.

Als Buddhist kann man grundsätzlich drei Fahrzeuge besteigen: das Kleine oder Grundlagen-Fahrzeug (Hinayana), das Große Fahrzeug (Mahayana) oder das tantrische Fahrzeug des Diamantwegs (Vajrayana). Der Hinayana-Buddhist hat vor allem seine eigene Befreiung als Ziel und hält sich meist als Mönch von möglichen Störungen fern, also auch von der Sexualität. Der Mahayana-Buddhist sucht, auch meist enthaltsam, die Befreiung zum Wohle der anderen als Bodhisattva. Der tantrische oder Diamantwegs-Buddhist schließlich geht den Weg auch als Bodhisattva, aber unter Einbeziehung aller Realitäten des Lebens, etwa als Yogi, Laienverwirklicher oder ‚Haushälter' mit Familie. Schwierigkeiten und starke Gefühle werden nicht vermieden, sondern verstehend durchdrungen und transformiert. Die Geistesgifte sind so der Rohstoff für die Entwicklung der korrespondierenden Buddha-Weisheiten.

Tantra ist ein Begriff des Sanskrit, meint eine bestimmte Sammlung von Schriften und bedeutet vom Wortsinn her ‚weben'. Das wiederum heißt, dass man auf dem tantrischen Entwicklungsweg alle Ebenen von Körper, Rede und Geist durchdringend verändert. Die oft in der Fantasie vieler Menschen überbetonte sexuelle Komponente des ‚Tantra' stammt aus dem Hinduismus. Im tantrischen Buddhismus geht es aber nicht um Sex, sondern um eine Transformation der Begierde im eigenen Geist: „Aus Begierde bist du an die Welt gefesselt, und durch dieselbe Begierde wirst du von ihr befreit" (Hevajra Tantra). Lesen Sie mehr dazu auf Seite

Sexualität ist der natürlichste Ausdruck und Folge von liebender Nähe zweier Partner. Diese erotische Energie fließt automatisch, wenn man wirklich Interesse für den anderen hat, und man kann sich dem Strom des Lebens normalerweise überlassen. Blockaden sind oft durch frühe Furcht zu erklären, sein Ego für einen anderen Menschen loszulassen und zu einem überpersönlichen Wir zu finden. Viele Beziehungen scheitern, weil wir, statt zu lieben, wie verwöhnte Kinder um Ansprüche und Territorien kämpfen, auch wenn es auf den ersten Blick erwachsener aussieht. Partnerschaft ist eine anspruchsvolle Aufgabe, die menschliche Reife, Hingabe und Achtsamkeit für den anderen und sich selbst verlangt. Sind Kinder da, wird es nicht einfacher, da der organisatorische Aufwand schnell jeden offenen Raum zu ersticken droht. Den Geist frisch zu halten, sich immer wieder neu aus Verstrickungen der Egos zu lösen und den offenen Raum der Freiheit im Verbundensein zu finden ist eine echte Herausforderung.

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Wenn man verliebt ist, leuchten alle Möglichkeiten des Geistes plötzlich auf, man ist mutig, liebevoll, frei, vertrauend, achtsam, kreativ, optimistisch und vollständig. Manch einer schreibt Gedichte, erlebt Welt und Menschen als schön, die Möglichkeiten erscheinen unbegrenzt, die Körper fühlen sich wunderbar lebendig und wild miteinander. Hier erfährt man sein Potenzial. Es ist wie ein Spalt im Bretterzaun der Gewohnheiten, der einen Blick in den offenen Raum des ursprünglichen Geistes öffnet.

Als Mensch vollständig zu sein heißt auch, das andere Geschlecht als Mitmenschen und Partner anzunehmen, zu lieben, zu verstehen, mitzufühlen und in der gegenseitigen Ergänzung das eigene Ganzsein zu erfahren. Jeder hat etwas, das dem anderen fehlt und ihn spiegelt. Hier kann jeder über sein Ego hinaus wachsen in eine überpersönliche Sphäre. Sex ermöglicht eine überpersönliche Erfahrung, im gemeinsamen Strömen und vor allem im Orgasmus sind wir eine neue Gesamtheit. Reifer Sex setzt paradoxerweise zwei sichere und klar abgegrenzte Personen voraus. Ohne Respekt, Gemeinschaftsgefühl oder Liebe fehlt diese reife Dimension der Begegnung. Sex öffnet Energiekanäle, kann tief entspannen und echte, spontane Freude schenken. Manchmal wäre es sicher heilsamer, statt zu streiten, ins Bett zu gehen. Passenderweise heißt eine Formel der christlichen Eheschließung ‚Wir sind ein Fleisch' und miteinander schlafen ist im Alten Testament ‚einander erkennen'. In den Urquellen der indischen Kultur, den Upanishaden, findet sich folgende wunderbare Formulierung, die die sexuelle Erfahrung in Samsara als aufgehoben in der absoluten phänomenalen Wirklichkeit versteht: „Wie einer, wenn er von einer lieben Frau umschlungen ist, nicht mehr weiß, was außerhalb seiner und was innerhalb seiner ist, so weiß dieses körperliche Selbst, wenn es von dem aus Erkenntnis bestehenden Selbst umschlungen ist, nicht mehr, was außerhalb und was innerhalb seiner ist" (Brhadaranyaka-Upanishad 4.3.20-21). Nicht umsonst sind viele tantrische Symbole des erleuchteten Zustandes weibliche und männliche Buddhas in Vereinigung. Diese Symbole sind keinesfalls Abbildungen von körperlichem Sex. Vereinigte Buddha-Formen zeigen neben unendlich vielem anderen die Einheit der weiblichen und männlichen Anteile des eigenen Geistes, deren lebendige Spiegelung natürlich ein Partner oder eine Partnerin sein kann. Es wird auch gesagt, dass vollständige Erleuchtung nicht erreichbar ist, wenn das andere Geschlecht nicht geliebt wird, denn dadurch bleibt Ablehnung im Geist.

Weil wir von Anfang an in der Präsenz der Mitmenschen leben und durch vorsprachlichen, leibhaftigen Austausch mit ihnen die Welt und uns selbst erfahren, bezeichnet der Phänomenologe Merleau-Ponty die gemeinsam bewohnte Lebenswelt als intercorporeité (Zwischenleiblichkeit). Ein Fleisch. Wir stehen ununterbrochen in Verbindung mit den anderen, wir sind offen in den Raum. Das ganze Leben ist durchströmt von menschlichem Kontakt, Wärme, Nähe, Liebe und auch erotischer Energie. Wir reagieren auf jeden Menschen spontan mit unserem Körpergefühl. Die verbundene Offenheit erklärt auch das mögliche Mitschwingen und Mitfühlen mit den psychischen und körperlichen Bewegungen anderer, die Fähigkeit zur Identifizierung. Schon als Säuglinge erlernen wir in den Armen der Mütter unser Bindungsverhalten (Bowlby), das wir lebenslang beibehalten, wenn wir es nicht therapeutisch umgestalten.

 


Dieser Artikel erschien in der Ursache\Wirkung №. 79: „Heilender Sex"

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Die frühe bedürftige Bindung an die Mutter, dies mit erhobenen Ärmchen oder verzweifelt schreiende Gehaltenseinwollen (reaching) ist aber auch die Urform jeder späteren Anhaftung und jeder wütenden Frustration, aus der Ängste, Unselbstständigkeit, Eifersucht und auch mörderischer Hass entstehen können. Je nach unserer kindlichen und oft bis ins Jetzt nachwirkenden psychodynamischen Lage sind wir mehr oder weniger sicher oder ängstlich. Ein Mensch, der früh fürchtete, ohne die Mutter ins Leben zu treten, kann extreme Wut gegen spätere Partner entwickeln, sobald er seine Abhängigkeit zu spüren droht. Hier haben Festhalten, unreife Liebe und Hass die gleiche Wurzel, hier liegen Minderwertigkeitsgefühle und Überlegenheitsstreben. Hier ist der Ursprung von klebriger Symbiose, die eine Partnerschaft in einen Kampf verwandelt. Auch Buddha kannte dieses Spannungsverhältnis: „Leid ist es, unterlegen zu sein, Glück ist die Überlegenheit. Es quält, wenn man gebunden ist, schwer wird von Banden man befreit" (Udana 2,9).

Aufgrund dieser möglichen Angst und Verletzlichkeit an der Basis unserer Sicherheit, die mit körperlicher Nähe eines anderen Menschen verbunden war und ist, kann Sexualität auch so leicht entgleisen in Gewalt, Macht oder Manipulation. Rührt man an diese grundlegenden Bedürfnisse, setzt bei den meisten Menschen das Denken aus und sie reagieren archaisch wie in ihrer Existenz bedrohte Säuglinge. Buddhistisch gesehen bringen wir viele dieser Tendenzen als Spuren früheren Handelns ins Leben mit, können also unsere Verantwortung nicht auf die Eltern abwälzen, wenngleich wir das früher Geschehene verstehen lernen müssen.

Beim Erwachsenwerden, in der Therapie und bei der geistigen Entwicklung geht es darum, die alten Abhängigkeitsgefühle zu entschärfen und sich über die enge, egoistische Sicht des Kindes hinaus zu erweitern. Es geht aber nicht nur darum, das wütende, traurige oder verzweifelte Kind zu entdecken, das wir einst waren, sondern vor allem den Erwachsenen, der glaubt, an diesem Kind festhalten zu müssen.

Ein gutes Zeichen für die richtige Richtung des Weges ist die Zunahme von Furchtlosigkeit, Freude und Liebe. Das kann freudigen Sex einschließen.

Bilder © Pixabay

Matthias Wenke

Matthias Wenke

Matthias Wenke M.A., geb. 1965, studierte Chemie, Erziehungswissenschaft, Psychologie, Soziologie und Philosophie, ist Individualpsychologischer Berater & Supervisor DGIP und Autor. www.praxis-individualpsychologie.de
Kommentare  
# Marco Bellavista 2016-02-15 17:03
"Alle Menschen sind als zwei Geschlechter geboren". - Dieser Satz ist ausgesprochener Blödsinn! - Er ist zunächst einmal logisch unsinnig. Ich vermute, dass gemeint ist: "Alle Menschen sind qua Geburt einem von zwei Geschlechtern zugehörig." Diese Aussage wäre dann sinnvoll, aber falsch. Wer im Jahre 2015 über Liebe und Sexualität schreibt, sollte das m.E. auch auf der Höhe des Forschungsstandes tun - und da ist unser heutiges Wissen über die komplexe Genese von Geschlechtlichkeit doch glücklicherweise wesentlich evolvierter - von den genetischen (also vorgeburtlichen!) Determinanten, der Normalität der Zwittergeburten bis hin zum sozial konstruierten Geschlecht (Gendering).
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# Anne 2018-03-12 17:29
Spannender Artikel!!
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# Berthold 2020-05-13 22:47
Schöner Artikel!
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