Wer ein furchtbares Schicksal erleidet, braucht Sicherheit und Menschlichkeit.
Stellen wir uns folgende Geschichte vor: Eine Frau geht zur Psychotherapie. Sie leidet unter Ängsten, hat Albträume und Panikattacken. Sie erzählt in der Therapie über ihr schweres Schicksal.
Sie ist aus einem Land geflohen, in dem eine Diktatur herrscht. Die Frau wurde verhaftet. Sie sollte zugeben, dass sie bei einer dort verbotenen Frauenbewegung mitgearbeitet hatte. Dazu wendeten die Unterdrücker die sogenannte weiße Folter an, eine Foltermethode, bei der die Psyche von Menschen systematisch zerstört werden soll. Die Peiniger nutzen dazu keine körperliche Gewalt. Ihr Kalkül ist, dass psychische Misshandlungen keine sichtbaren Spuren hinterlassen. Sollten Betroffene später ins Ausland fliehen und darüber sprechen, streiten die Verantwortlichen alles ab.
Dabei hat die weiße Folter ähnlich schlimme Auswirkungen wie körperliche Gewalt. Die Frau war wochenlang in einer kargen Einzelzelle eingesperrt. Dort war sie von wesentlichen Sinneseindrücken abgeschnitten. Sie hatte keine Kontakte zur Außenwelt. Das Fenster in der Zelle war abgedichtet, sodass sie die Tageszeit nicht erkennen konnte. Die Folterer bestimmten, wann sie das Licht einschalteten. Besonders schlimm waren die Stunden in der Dunkelheit. Manchmal hörte die Frau Schreie, die sie nicht zuordnen konnte. Die Folterer behaupteten, dass wegen ihr auch Familienangehörige in Haft gekommen seien.
In der Psychotherapie erzählte die Frau, dass sie sich in besonders schwierigen Zeiten auf die Pritsche legte und die Augen schloss. Sie richtete dann ihre Fantasie auf einen wunderschönen Ort, der ihr Kraft gab. Sie stellte sich vor, dass sie sich im Garten ihrer Eltern befand. Als Kind hatte sie diesen Garten geliebt. Sie malte sich aus, dass sie zwischen den Bäumen herumlief und die Äste berührte. Sie stellte sich den Ort mit allen Sinnen vor – wie grün die Blätter waren, wie es dort duftete, wie sie sich im Sonnenschein entspannte und wie ihre Eltern sie in die Arme nahmen. Daraufhin umarmte sie sich in der Gefängniszelle selbst und streichelte sich liebevoll.
In der Psychotherapie erfuhr die Frau Menschlichkeit. Eine andere Person war für sie da und begleitete sie in schweren Stunden. Im Laufe der Therapie lernte die Frau auch Achtsamkeitsübungen. Diese halfen ihr, wenn Erinnerungen an das Gefängnis getriggert wurden. Auch wenn ihr Begegnungen mit anderen Menschen zu viel wurden, zog sie sich an einen sicheren inneren Ort zurück.
Eine besondere Freude war für sie ein Gemeinschaftsgarten. Dort pflanzte sie viele Blumen an. Sie genoss den Garten mit allen Sinnen. Zwar kamen die Albträume manchmal wieder, doch die Frau konnte damit nun besser umgehen. In der Therapie lernte sie, sich selbst und ihren Sinnen wieder zu vertrauen. Sie lernte auch, sich selbst zu lieben. „Wer liebt“, so soll Buddha einmal gesagt haben, „vollbringt selbst Unmögliches.“
Dieser Artikel erschien in der Ursache\Wirkung №. 121: „Mit allen Sinnen"
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