„Ich beschäftige mich seit Kurzem mit Zen-Buddhismus. Ich habe mich noch keiner Gruppe fest angeschlossen, sondern schaue hier und dort mal rein und lese viele Bücher. Überall höre ich, man muss sein Ego überwinden. Was bedeutet: Das Ego überwinden?
Das verstehe ich nicht. Ich habe viele Jahre gebraucht, um mir eins anzuschaffen, und es fühlt sich gut an. Ich war lange ein sehr introvertierter Typ. In der Familie immer das brave Mädchen. Bei der Arbeit habe ich mich nie beschwert, auch wenn es mir oft zu viel war. In Beziehungen habe ich immer zurückgesteckt. Heute habe ich diese Verhaltensweise überwunden, auch mit therapeutischer Hilfe. Ich habe gelernt, meine Bedürfnisse klar zu formulieren. Mir scheint das nicht richtig, das wieder aufzugeben.“
Jutta Schmidt
Was bedeutet: Das Ego überwinden?
Liebe Jutta Schmidt, als Mensch geboren zu sein, ist faszinierend und kostbar! Im Laufe unseres Lebens lernen wir, die eigene Persönlichkeit in einer Weise zu entfalten, die sowohl die Sorge für uns selbst als auch die Berücksichtigung der Bedürfnisse anderer umfasst. Sie beschreiben anhand eines persönlichen Beispiels, wie wichtig eine gesunde psychologische Balance ist. Und auch, wie viel Arbeit es sein kann, diese zu finden oder wiederherzustellen. Ein solcherart gesund ausgeprägtes Selbst, Ich oder Ego, das am rechten Ort Grenzen zu setzen oder auszuweiten weiß, bildet die Ausgangslage für eine umfassende spirituelle Praxis, wie es die buddhistische ist. Dass Sie diesen wichtigen Entwicklungsprozess wertschätzen und nicht missen wollen, ist auch ganz im Sinne des Zen-Buddhismus.
Es bedarf einer stabilen Persönlichkeit, um die Funktionsweise des Lebens und des eigenen Seins grundlegend zu erforschen und sich der Frage zuzuwenden: „Wer bin ich?“ Spontan antworten wir auf diese Frage vielleicht: „Ich bin eine Frau/ein Mann, eine Physikerin/ein Maurer, eine Christin/ein Buddhist …“. Dies sind Beschreibungen und Konzepte, die im täglichen Leben praktisch sind. Nur zu häufig erhalten solche Bestandteile unseres Selbstbildes allerdings eine Bedeutung, die weit über die praktische Orientierung hinausgeht: Wir beginnen, oft ohne uns dessen bewusst zu sein, sie als Mittel der Identifikation zu nutzen, für oder gegen sie zu kämpfen und sehr viel Zeit und Energie darauf zu verwenden, sie aufrechtzuerhalten. Beispiele von Problemen, die daraus entstehen, finden wir etwa in Form von Rassen- und Genderdiskriminierung oder familiären, beruflichen und religiösen Konflikten aller Art.
Hier setzt die buddhistische Perspektive an: Nicht das Selbst, Ich oder Ego an sich ist es, was uns und anderen Schwierigkeiten bereitet, sondern unsere Identifikation damit beziehungsweise unser Festhalten daran. Dadurch reduzieren wir unser Potenzial auf einige uns vertraute Eigenschaften, die uns Sicherheit geben.
Die Frage reicht also aus buddhistischer Sicht tiefer und lautet: „Wer bin ich wirklich?“ Wer dies meditativ ergründet, entwickelt ein umfassendes Verständnis für den Prozess des Lebens und kommt zu tiefgründigeren Antworten, als es intellektuell möglich ist. „Nichtselbst“ und „Leerheit“ als zentrale buddhistische Begriffe wenden sich also nicht gegen ein psychologisch gesundes Selbst. Direkt zu erfahren, dass alles Leben und unsere eigene Existenz in vielfältiger Weise miteinander verbunden sind, führt vielmehr dazu, über das konventionelle Verständnis des Selbst/Ego hinauszugehen und damit die „Ich-Illusion“ zu durchschauen.
Ich wünsche Dir bei der Praxis weiterhin den Mut, kluge Fragen zu stellen und sich auf den Prozess des tiefen Schauens einzulassen.
Herzlich, Dagmar Jauernig
„Dharma“ [Sanskrit धर्म, Pali Dhamma धम्म], zentraler Begriff im Buddhismus = Lehre des Buddha