Die Ursachen für Krisen erkennen und mit Achtsamkeit, Meditation, Untersuchung und Anstrengung einen freien Umgang finden. Wie Achtsamkeit helfen kann, Freiheit zu finden.
Buddha beschreibt zwei Lebensformen, Samsara und Nirvana. In Samsara sind Handlungen bedingt, also abhängig und somit unfrei. Samsarisches Leben ist das herkömmliche, es beruht auf Unbewusstheit und Unwissen. Wird Samsara überwunden, führt das ins Nirvana. Es beruht auf Weisheit, der Mensch denkt und fühlt unabhängig und ethisch heilsam.
Gibt es den freien Willen? Haben wir immer Handlungsfreiheit? Wie erlangen wir Freiheit? Menschen geraten in Krisen, weil sie sind, wie sie sind. Das, was man ist, ist man aufgrund angeborener geistig-körperlicher Anlagen, auch Wurzeln genannt, und angeboren-erworbener Bedingungen, die man auch Charaktereigenschaften, Glaubensätze oder Angewohnheiten nennen kann. Jeder hat sie in sich: Wut, Ärger, Opferdenken, Eifersucht, Besserwissen, Selbsthass und ganz viele andere. In ihnen liegen die Ursachen der Krisen, nicht im Außen.
Was ist Freiheit?
Es ergibt daher keinen Sinn, Krisen verdrängen zu wollen oder auf ihr Ende zu warten. Ihr Wert liegt darin, die Ursachen und die Bedingungen, die dazu geführt haben, in sich zu erkennen und Lösungen zu finden. Wenn man etwa die Bedingung „Unsicherheit“ in sich trägt, braucht man weder Glück, um die nächste schwierige Situation zu bewältigen, noch hat es Sinn, ständig den eigenen Mängeln Bedeutung zu geben. Zielführend ist die persönliche Anstrengung, den eigenen Unsicherheiten nicht nachzugeben. Das Gleiche gilt für alle anderen Bedingungen, die verhindern, ausgeglichen und liebevoll zu sein.
Dieser Artikel erschien in der Ursache\Wirkung №. 113: „Grenzen überschreiten"
Die „Bedingte Entstehung“ beschreibt den Prozess, wie aufgrund von Unwissenheit Charaktereigenschaften, Glaubensätze oder Angewohnheiten entstehen. Diese bedingen die Gefühle und Handlungen. Dieser Mechanismus hält alle Menschen in Unfreiheit und persönlichem Leiden, in Samsara, gefangen. Die Übung besteht darin, sich diesen Daseinskreislauf bewusst zu machen und ihn zu beenden. Tut man das nicht, plagt man sich, ähnlich wie Sisyphos in der Sage, ewig weiter, hofft auf das Ende dieser oder der nächsten Krise oder versucht, deren Folgen weniger gravierend zu gestalten. Das hat alles keinen Sinn. Sinnvoll ist es, die Bedingungen, die zur jetzigen Situation geführt haben, zu erkennen und zu ändern. Das ist buddhistische Praxis.
Die Buddhistische Praxis hilft Freiheit zu entdecken
Alle Menschen haben Schwierigkeiten. Sie verursachen Stress. Gelingt es, alle, wirklich alle Hindernisse wegzulassen, ist man befreit, erleuchtet.
Hindernisse oder Hemmungen werden alle Verhaltensweisen genannt, die Geistesruhe verhindern. Im Prinzip ist das die ganze Palette unheilsamer menschlicher Schwierigkeiten. Sie werden in nur fünf Gruppen zusammengefasst: Die erste: süchtiges Verhalten, es ist die Gruppe des Haben-Wollens, des Begehrens. Die zweite: Ärger, die Gruppe des Nicht-Haben-Wollens, der Ablehnung. Die dritte: skeptischer Zweifel, die Gruppe der Illusion, des Nichtwissens. Die vierte: Angst, die Gruppe der inneren Unruhe. Die fünfte: Energielosigkeit, also die Gruppe der Antriebslosigkeit.
Man kann sie in der Meditation erkennen, wenn einem bewusst wird, dass sie es sind, die den Eintritt des Geistes in die tieferen Stufen der Konzentration verhindern. In den Originaltexten werden sie als Sinnenbegehren, Übelwollen, skeptischer Zweifel, Unruhe und Mattigkeit bezeichnet. Sie stören nicht nur die Sammlung des Geistes in der Meditation, sondern auch dabei, ein gelingendes und zufriedenes Leben zu führen. Alle negativen Verhaltensweisen lassen sich auf diese fünf reduzieren. Im Streit finden sich die ersten beiden, in der Eifersucht ebenso, in der Depression Ablehnung, Angst und Energielosigkeit, in der Unsicherheit Zweifelsucht.
Das Bemerkenswerte an dieser Art der Darstellung ist der Umstand, dass man beim Versuch der Überwindung eigener Defizite, etwa der Eifersucht, nicht deren psychologische Ursachen analysiert, sondern sich mit dem Begehren selbst auseinandersetzt: Also woher es kommt und wie es überwunden wird. Das ist eine grundsätzlich andere Herangehensweise als in der Psychotherapie, die zusätzlich unterstützend angewendet werden kann.
Diese fünf Gruppen für immer fallen zu lassen ist der Weg des Buddha. Da ist nichts Geheimnisvolles, Religiöses oder Esoterisches. Gelingt es, bleiben nur noch vier emotionale Zustände übrig: Freude, Liebe, Mitgefühl und Gleichmut. Sie werden als die vier „göttlichen Verweilungen“ oder „Unermesslichen“ genannt. Unermesslich, weil man sich ein Leben in dauerhafter Abwesenheit der fünf und permanenten Anwesenheit der vier gar nicht vorstellen kann. Ähnlich wie die fünf Hindernisse kann man auch die vier Verweilungen weiter auffächern: in Freundlichkeit, Geduld, Milde, Großzügigkeit; doch die Basisgefühle sind lediglich vier.
Buddha war offensichtlich ein sehr praktischer Mensch. Er hat die komplexe Struktur des Menschen, seine Probleme und deren Lösungen klar gegliedert und strukturiert. Um die Überwindung der fünf Hindernisse, die zur Verwirklichung der vier Unermesslichen führt, kann man sich täglich bemühen. Hat man sich derart grundlegend gewandelt, dass man sich für die Abwesenheit der Hemmungen nicht mehr anstrengen muss, wird das in der buddhistischen Terminologie als erleuchteter Zustand beschrieben. Man ist ein anderer geworden, hat sich zu einem Buddha, einem erleuchteten Menschen gewandelt.
Die Antriebe, die Gelassenheit verhindern, werden als mula, Wurzeln, und Paccaya, Bedingungen, beschrieben. Sie sind mit dem von Freud geprägten Triebbegriff nicht identisch. Trotzdem lassen sie sich auch in der Psychologie wiederfinden. In allen Kulturen wurde versucht, den Menschen im jeweiligen Zeitgeist zu beschreiben. Die Beschreibung ist jeweils anders, der Mensch in seiner Struktur gleich. Buddhismus ohne Glaube und Esoterik ist wertvoll, da dieses Lehr- und Übungsgebäude aufgeklärte Menschen anwenden können.
Psychologie hat ihren Ursprung in der freudschen Triebtheorie, in der von einer Anzahl angeborener Triebe ausgegangen wird. Diese Theorie wurde verfeinert, in der heutigen Forschung spricht man von sogenannten Motivationssystemen. Ziel der Psychotherapie ist es, seelisches Leid zu heilen oder zu lindern, in Lebenskrisen zu helfen, gestörte Verhaltensweisen und Einstellungen zu ändern, die persönliche Entwicklung und Gesundheit zu fördern.
Buddhistisches Geistestraining hat ähnliche, jedoch darüber hinaus reichende Ziele. Es erklärt, wie und warum leidvolle Gedanken, Gefühle und Handlungen auf Unbewusstheit und mangelnder Konzentration beruhen. Die Psychotherapie würde sicherlich bereichert, beschäftigte sie sich mit der Lehre der „Bedingten Entstehung“ und mit Begriffen wie „Leerheit“ und „Vergänglichkeit“.
Was ist Freiheit im Buddhismus?
Für buddhistisch-spirituell Praktizierende ist es günstig, im Erklärungsmodell des Buddha zu bleiben, da es verwirrend sein kann, unterschiedliche Systeme zu mischen. Ist man tief in eines der beiden eingedrungen, wird man das andere ohnehin verstehen. Das ist ähnlich, wie sich einem alle Religionen erschließen, wenn trennende Unterschiede überwunden werden und erkannt wird, dass es letztlich immer um Weisheit, Befreiung, Freiheit und Liebe geht.
Die sogenannten Wurzeln stellen die Triebfedern sämtlicher Handlungen dar. Es sind sechs, und sie werden als Begehren, Ablehnung und Nichtwissen, traditionell als Gier, Hass und Verblendung sowie als Gierlosigkeit, Hasslosigkeit und Unverblendung bezeichnet. Alle Menschen kommen mit diesen sechs Wurzeln, allerdings in unterschiedlichem Ausmaß, auf die Welt, ähnlich wie in Freuds Erklärungsmodell mit Trieben, dem späteren Motivationssystem.
Die vorher beschriebenen fünf Hindernisse sind Ausdruck des negativen Aspekts der drei Wurzeln, mula. Gier zeigt sich als süchtiges Verhalten, Hass als Ärger und Ablehnung, Verblendung als Zweifel und Unwissen. Die beiden restlichen Hemmungen gehören in den Bereich der Bedingungen. Diese, in den Texten als Paccaya bezeichnet, sind ein komplexes System von 24 Bedingungsarten unseres Lebens, anhand derer alle denkmöglichen geistigen und körperlichen Phänomene und Vorgänge beleuchtet werden, die die bedingte Natur des menschlichen Daseins ausmachen. Sie sind in einem gigantischen, schwer zugänglichen Werk, dem Abhidhamma-Pitaka, aufgezeichnet worden.
Man muss die komplexen Zusammenhänge darin weder verstehen noch sich mit ihnen beschäftigen, lediglich das dahinterliegende Prinzip ist wichtig. Vereinfacht ausgedrückt erklärt es, dass alle psychologischen Reaktionen, Ärger ebenso wie Freude, bedingt sind. Das bedeutet, dass sie durch die Wahrnehmung äußerer Ereignisse in einem automatisch entstehen, ohne dass man – vorerst – eingreifen kann. Das sind umgangssprachlich die sogenannten Knöpfe, die ein anderer bei einem drücken kann. Jemand sagt etwas, und man ärgert sich. Das gilt auch für Positives, jemand schenkt einem etwas, und man freut sich. Es hängt vom Charakter und von der Persönlichkeitsstruktur des Einzelnen ab, wann, wo und wie sich jemand freut oder ärgert. Wird einem dieser täglich ablaufende Prozess bewusst, kann man lernen, die Bedingungen in sich zu ändern. Hier besteht ein wesentlicher Unterschied zur Psychotherapie. In ihr geht man auf die Ursachen ein, warum ein Mensch so und ein anderer anders ist, auf frühkindliche Traumata und Lebensumstände.
Im buddhistischen Geistestraining muss man „nur“ sehen, was ist. Das „nur“ steht in Anführungszeichen, denn dieses Sehen, was ist, ist nicht einfach. Ein Beispiel kann das verdeutlichen: Wenn es meine Bedingung ist, dass ich mich vor Fremden fürchte, werde ich beim Anblick flüchtender Menschen ganz automatisch in Ablehnung und Ärger geraten. Ich habe in Bezug auf diese spezifische Situation weder einen freien Willen noch Handlungsfreiheit oder allgemeine Freiheit. Psychotherapeutisch würde man versuchen, die Ursachen und Gründe dafür aufzudecken. Buddhistisch bräuchte ich „nur“ die Bedingung, nämlich meine Furcht, erkennen und fallen lassen, was natürlich nicht einfach ist. Das kann in der Meditation geschehen, wenn mir in einer momenthaften Erfahrung, etwa einem Einheitserleben, plötzlich klar wird, dass zwischen mir und dem Fremden kein Unterschied besteht oder durch eine tantrische, also eine im Leben gewonnene Erfahrung, in der mir bewusst wird, dass alle Menschen überall gleich sind. Auf der ganzen Welt gibt es helle und dunkle, freundliche und unfreundliche, gutmütige und aggressive, ethisch lebende und kriminelle Menschen. Wenn man das in der Tiefe erkannt hat, ärgert man sich nicht mehr auf Knopfdruck aufgrund eigener, sogenannter Glaubenssätze, sondern nur noch mit Grund. Den kann es natürlich auch geben. Will einem der andere Böses, kann man sich sehr wohl dagegen wehren. Man hat in jeder Lebenssituation Freiheit erlangt.
In der Meditation gewonnene Einsichten gehen über die weltliche, also die persönliche beziehungsweise psychologische Ebene hinaus. Sie betreffen auch die sogenannte überweltliche, also für alle Menschen zuständige Ebene, in der einem Leerheit, Vergänglichkeit und Leidhaftigkeit aller Phänomene bewusst werden.
Die fünf Hemmungen zu überwinden, ist eine lebenslange Aufgabe. Warum das so schwer ist, liegt in der Struktur des Menschen selbst: in seiner mangelnden Bewusstheit, Unkonzentriertheit, dem Ich-haften Begehren und der Ablehnung, also dem Egoismus, der mangelnden Einsicht in die Tatsachen des Lebens, Leerheit, Vergänglichkeit und Leidhaftigkeit aller Dinge, der mangelnden Einsicht in die Gesetze von „Ursache und Wirkung“ und der „Bedingten Entstehung“.
Das mag kompliziert klingen, ist es aber nicht. Praktiziert man buddhistisches Geistestraining, wird klar, wie richtig und logisch strukturiert es ist. Intellektuelles Verstehen alleine nützt ohnehin wenig. Da es nicht erdacht wurde, sondern aus der Erfahrung kommt, erschließt sich sein Wahrheitsgehalt nicht durch Denken, sondern durch kontinuierliche Übung. Immer wieder.
Die Übung für Freiheit
Jeder hat Probleme, weil er so lebt, wie er lebt. Durch angelernte Verhaltensweisen entstehen Krisen. Wäre man immer weise, käme man nicht in Schwierigkeiten, es ginge einem immer gut. Da man nicht weiß, was und wie man sich ändern soll, um nicht zu leiden, hat es wenig Sinn, darüber nachzudenken, wie man aufhört zu leiden. Man weiß es ohnehin nicht. Wüsste man es, würden man ja nie leiden. Krisen bergen die Chance auf Änderung. In der Krise liegt die Lösung. Wie also geht man durch Krisen, beziehungsweise wie bereitet man sich auf die nächste vor? Immer in der gleichen Weise: Wenn ein Problem auftaucht, macht man nicht, was man immer gemacht hat. Man sagt nicht, die anderen sind schuld, das Leben ist ungerecht, man versucht nicht, das Problem und den Stress möglichst rasch loszubekommen, man läuft vor dem Problem, der Angst, dem Ärger, nicht weg. Man macht etwas Neues. Man versucht, das Problem, den Zweifel, die Unruhe bewusst zu erkennen. Erkennen – das ist der erste Schritt. Innehalten, ruhig bleiben – das ist der zweite Schritt. Das Problem anschauen, untersuchen – das ist der dritte Schritt. Unheilsames Verhalten ändern und heilsames entwickeln – das ist der vierte Schritt. Diese Übung ist keine Psychotherapie, sondern eine spirituelle, eine geistige Übung. Man übt geistige Konzentration, Innenschau und Untersuchung, man übt, nicht zu bewerten und zu beurteilen. Das ist man nicht gewohnt, aber es kann gelernt werden. Wenn man ihre Übung zu mühevoll findet, sollte man sich klar machen: Weiterhin das Gleiche tun, immer wieder leiden und unglücklich sein, ist weder sinnvoll noch weniger anstrengend. Genau das tut man in jenem alten Leben, das Buddha Samsara nennt. Hat man eine unheilsame Verhaltensweise, etwa Eifersucht, für immer überwunden, ist das nicht nur die neue Schiene, es kann einem auch wie die Wiedergeburt in ein neues Leben vorkommen. Man wird erstaunt sein, wie leicht, völlig anstrengungslos es nun ist, nicht mit Eifersucht zu reagieren. Hat man alle unheilsamen Bedingungen überwunden, lebt man in Nirvana, man ist ein Buddha geworden. |
Möge die Übung gelingen. Mögen Sie Freiheit finden.
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