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Brauchen wir wirklich die Quantentheorie, um Spiritualität besser zu verstehen?

MoonHee beantwortet hier Fragen des alltäglichen Lebens oder Fragen, die ihr schon immer einmal stellen wolltet. In ihrem ersten Beitrag „Wie geht es dir heute? Danke, gut!“  findet ihr mehr Informationen dazu.

Im Zusammenhang mit Diskussionen über Spiritualität wird immer wieder gerne Bezug auf die Quantentheorie genommen, insbesondere auf den darauf beruhenden, möglichen wissenschaftlichen Nachweis, dass der Dualismus von geistiger und materieller Welt so nicht wirklich existiert. Dabei ist die Quantentheorie, vereinfacht gesagt, eine mathematische Beschreibung zur Vorhersage von Messergebnissen, um den Doppelcharakter von Welle und Teilchen in der subatomaren, physikalischen Welt zu erklären. Irgendwelche Aussagen zu Phänomen unserer spirituellen, geistigen oder sozialen Welt wie Seele, Schmerz, Liebe oder Sinn sind damit nicht verbunden. Wenn wir von Energie, Kraft, Druck, Wärme, Widerstand, Körper usw. reden, benutzen wir Begriffe aus der Physik, um unser Erleben zu beschreiben. Oder anders herum gesagt, Physiker benutzen diese Worte, um Messgrößen einen Namen zu geben. Solche metaphorischen Verwendungen sind normal,  doch wollte man damit die Identität von physikalischer und nicht-physikalischer Welt belegen, wäre es bloß eine Verwechslung von Worten mit Dingen.

Antwort MoonHee:

„Wahrscheinlich darf man ganz allgemein sagen, dass sich in der Geschichte des menschlichen Denkens oft die fruchtbarsten Entwicklungen dort ergeben haben, wo zwei verschiedene Arten des Denkens sich getroffen haben. Diese verschiedene Arten des Denkens mögen ihre Wurzeln in verschiedenen Gebieten der menschlichen Kultur haben oder in verschiedenen Zeiten, in verschiedenen kulturellen Umgebungen oder verschiedenen religiösen Traditionen. Wenn sie sich nur wirklich treffen, d.h. wenn sie wenigsten so weit zueinander in Beziehung treten, dass eine echte Wechselwirkung stattfindet, dann kann man darauf hoffen, dass neue und interessante Entwicklungen folgen.“ (Werner Heisenberg, Physiker und Nobelpreisträger)

Die Frage Warum gibt es überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts? ist keine naturwissenschaftliche Frage. Ebenso ist die Antwort auf die Frage Was die Welt im Innersten zusammenhält? nicht Materie. Allein mit der klassischen Physik lassen sich Atome nicht verstehen. Erst die Quantenphysik ab dem 20 Jhd. erklärt, wie stabile Materie überhaupt möglich ist. Phänomene wie Welle-Teilchen, Verschränkung, Wechselwirkung, Unschärfe, Dekohärenz, subjektiver Beobachter, Kausalität, Determinismus, Zufall lassen die Quantenphysik sonderbar oder spukhaft anmuten. Materie interagiert: Teilchen kommunizieren miteinander und beeinflussen sich instatan. Einen objektiven Beobachter, der außerhalb des Geschehens steht, gibt es nicht mehr: Die subjektive Beobachtung verändert die Welt nicht nur, sondern ist für sie konstitutiv, so der Physiker und Nobelpreisträger Anton Zeillinger.

Spiritualität

Materie ist also nicht in sich abgeschlossen und besteht irrwitzigerweise – nicht aus Materie. Materie besteht aus 99,8 % aus Bindungsenergie. Das, was die Welt im Innersten zusammenhält ist nichts Stoffliches, sondern etwas Spirituelles. Eine unveränderliche und beständige Materie gibt es nicht; Elementarteilchen als solche existieren nicht. Der Quantenphysiker Hans-Peter Dürr bezeichnet Materie als Schlacke des Geistes, als geronnene Form.[1] Er erklärt: „Ein Atom ist […] kein Objekt wie ein winziges Sandkorn“[2]; wird Materie immer weiter auseinander genommen,[3] „bleibt am Ende nichts mehr übrig, was uns an Materie erinnert. Am Schluss ist kein Stoff mehr, nur noch Form, Gestalt, Symmetrie, Beziehung“. Dürr wagt die kühne Aussage: „Materie ist nicht aus Materie zusammengesetzt; [d]as Primäre ist Be­ziehung und der Stoff das Sekundäre.“[4] Materie erscheint nämlich erst bei einer gewissen ver­gröberten Betrachtung; das Fundament der Wirklichkeit ist etwas Spirituelles, eine sich immer er­neuernde Quelle, etwas Lebendiges. – Und das, was lebendig ist, bezieht ich sich immer auf ein Ganzes und nicht auf seine Teile. Die Weltanschauung der modernen Physik ist holistisch und nicht atomistisch.[5] „In der klassischen Physik bestimmen die Eigenschaften und das Verhalten der Teile das Verhalten des Ganzen. In der Quantenphysik ist es genau umgekehrt: Es ist das Ganze, das das Verhalten der Teile bestimmt.“[6] Reduktionistische Konzepte (Materialismus, Reduktionismus) und der dualistische Gegensatz von Geist und Materie sind durch die moderne Physik widerlegt. Das Ganze bestimmt seine Teile und nicht die Teile das Ganze. Aus diesem Grund ist das Ganze auch mehr als die Summe seiner Teile.

Der Physiker und Philosoph Fritjof Capra schreibt in seinem Buch Das Tao der Physik: „Die Naturwissenschaft ist nicht auf die Mystik angewiesen und die Mystik nicht auf die Naturwissenschaft – doch die Menschheit kann auf keine der beiden verzichten.“[7]

„Nicht aufeinander angewiesen zu sein, heißt jedoch nicht, dass die Mystik und die Naturwissen­schaften gänzlich voneinander verschieden oder unabhängig voneinander sind. Vielmehr ist die Mystik [oder Spiritualität] Anfang und Ende jeder Naturwissenschaft. Denn die Frage aller wissenschaftlichen Fra­gen, ist die Frage nach der letzten Wirklichkeit. Die Mystik und die moderne Physik haben nicht nur den gleichen Untersuchungsgegenstand, auch kommen beide zu derselben Schlussfolgerung: Die Wirklichkeit ist eine ungebrochene Ganzheit; alles ist mit allem verbunden, nichts steht für sich alleine.“[8] Der moderne Physiker beginnt dabei nur, anders als der Mystiker, mit dem Studium der materiellen Welt. Beim Eindringen in die tieferen Schichten der Materie wird er sich der Ein­heit aller Dinge und Vorgänge bewusst. Darüber hinaus lernt er, dass er selbst und sein Bewusst­sein integraler Teil dieser Einheit sind. Mystiker und Physiker teilen also die gleiche eine Er­kenntnis bzw. beide partizipieren an der einen, ganzen Wirklichkeit, der eine ausgehend vom Reich des Inneren, der andere ausgehend von der äußeren Welt.[9] „Jedoch geht die Mystik dort weiter, wo die Physik an ihre Möglichkeiten und Grenzen stößt, nämlich in der praktischen Erfahrung – dem Erleben der Einheit mit der letzten, einen Wirklichkeit. Die letzte Wirklichkeit als Ganzes entzieht sich zwar jeglichem begrifflichen Erfassen und Wissen, sie kann aber durch­aus durch und in Einheit erfahren werden. Was wir von der Mystik lernen: Erfahrbar bedeutet nicht unbedingt erkennbar – wir erleben mehr als wir begreifen.“[10]

„Mystische Konzepte der Einheit und Ganzheit werden oft als irrational bzw. als weltflüchtige Ent­rücktheit abgetan. Irrtümlicherweise wird angenommen, dass die Welt in der Mystik eine Illusion sei. Die reale Welt entspricht jedoch keiner Einbildung, sie ist! Die mystische Negation der Welt betrifft lediglich die Annahme, dass Welt und Selbst  [Objekt und Subjekt] getrennt voneinander seien. Die Täuschung liegt einzig und allein in der willkürlichen Grenze, die wir zwischen ihr und uns ziehen.“[11] Laut Ludwig Wittgenstein liegt am Grunde der ganzen modernen Weltanschauung die Illusion, die davon aus­geht, dass die sogenannten Naturgesetze die Erklärung von Naturphänomenen seien.[12] „Denn diese Gesetze beschreiben nicht die Realität, sondern nur die Grenzen der Realität.“[13]

Wird die Realität entgrenzt, bleibt nichts als die Eine Wirklichkeit. Schön fromulierte Oscar Wilde: „Wer zwischen Seele und Körper einen Unterschied sieht, besitzt keines von beiden.“

 

Weitere Fragen & Antworten von MoonHee Fischer finden Sie hier.

Sie haben eine Frage? Schreiben Sie an m.fischer@ursachewirkung.com

Bilder Teaser und Text© Pexel
Bild Header © Sigurd Döppel 

[1] Vgl. Hans-Peter Dürr 2010, 33.

[2] Ebd.

[3] Vgl. ebd.

[4] Hans-Peter Dürr, Geist, Kosmos und Physik. Gedanken über die Einheit des Lebens 2010, 33.

[5] Vgl. ebd., 33-45.

[6] Fritjof Capra, Das Tao der Physik 1997, 309.

[7] Ebd. Titelseite des Buches

[8] Moonhee Fischer, Wir erleben mehr, als wir begreifen 2020, 248.

[9] Vgl. Fritjof Capra, Das Tao der Physik 1997, 305.

[10] Moonhee Fischer, Wir erleben mehr, als wir begreifen 2020, 248.

[11] Ebd. 242.

[12] Vgl. Ken Wilber, Wege zum Selbst. Östliche und westliche Ansätze zu persönlichem Wachstum 2008, 58.

[13] Ludwig Wittgenstein indirekt und ohne genaue Angabe wiedergegeben in ebd.

Dr. phil. MoonHee Fischer

Dr. phil. MoonHee Fischer

„Was eines ist, ist eines. Was nicht eines ist, ist ebenfalls eines.“ (Zhuangzi) Jenseits eines dualistischen Denkens, im Nichtgeist, gibt es weder das Eine noch ein Anderes. Wo das Eine sich von einem Zweiten abgrenzt, ist keine Einheit, sondern Zweiheit. Die Erfah-rung des Einen – ich bin al...
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