Ein Kind kann uns zur Weißglut bringen. Sie können uns aber auch zu mehr Weisheit verhelfen – wenn wir uns wirklich auf sie einlassen.
Obwohl Buddha keinen Erziehungsratgeber geschrieben hat, von ihm keine Äußerungen über Kindererziehung überliefert sind und er ein wirklich lausiges Vorbild als Vater abgibt, kann uns seine Lehre doch zu besseren Eltern machen. Bis dahin warten aber noch eine Menge Herausforderungen. Denn kein Zeitvertreib ist ähnlich anstrengend und nervenzehrend wie die Erziehung von Kindern. Es beginnt mit schlaflosen Nächten, weil das Baby schreit, und es endet mit schlaflosen Nächten, weil der pubertierende Nachwuchs nachts um zwei noch immer nicht zu Hause ist. Und dazwischen? Reichlich Gelegenheiten, sich ärgern zu lassen, von trotzenden Kindern, von unerledigten Schulaufgaben oder schlechten Noten.
Drehen wir den Spieß allerdings um und begegnen dem Ganzen mit einer buddhistisch ausgerichteten Grundhaltung, passiert etwas Erstaunliches: Die Kinder werden unsere Lehrmeister und wir dürfen mit und an ihnen wachsen. Sie zeigen uns die Welt ganz neu. Sie wecken ungeahnte Gefühle in uns und konfrontieren uns mit ganz unerwarteten Erkenntnissen, auch über uns selbst. Durch unsere Kinder bekommen wir unzählige Gelegenheiten zum inneren Wachstum und zur Kultivierung unserer Geisteshaltungen.
Kinder machen aus uns komplettere Menschen, weil sie uns auch mit unseren Schatten und Abgründen konfrontieren, die wir sonst so gerne verdrängen.
Eine achtsame Grundhaltung ist dafür die wichtigste Voraussetzung. Sie ermöglicht es uns, ein Kind und seine Bedürfnisse so aufmerksam wie möglich wahrzunehmen und darauf einzugehen. Oft genug ist es ein Kunststück, herauszufinden, warum das Baby gerade weint. Was tun, wenn es satt und frisch gewickelt ist und trotzdem noch schreit? Oder wenn es jede Nacht stundenlang getröstet werden will? Manchmal geht es nur darum, da zu sein, das Baby nicht im Stich zu lassen mit dem, was ihm Kummer bereitet, und dabei auch die eigenen Gefühle auszuhalten. Sie reichen von Hilflosigkeit, Ohnmacht und Verzweiflung bis hin zu Wut und schlechtem Gewissen. Wer achtsamkeitsgeschult ist, erträgt es vielleicht ein bisschen besser, erschrickt ein bisschen weniger über die negativen Gedanken und Gefühle, die sich in solchen Extremsituationen einstellen. Und davon gibt es reichlich im Laufe eines Kinderlebens.
Kinder machen aus uns komplettere Menschen, weil sie uns auch mit unseren Schatten und Abgründen konfrontieren, die wir sonst so gerne verdrängen. Durch sie können wir die ganze Bandbreite unserer Emotionen entdecken, weil sie in uns so viele ungeahnte Gefühle auslösen. Sie können penetrant an unseren Nerven zerren, panische Ängste hervorrufen und großen Zorn in uns entfachen. Andererseits bereiten sie uns auch die größte Freude, können unser Herz in Millisekunden erweichen und uns zu den liebevollsten, zärtlichsten und selbstlosesten Wesen machen. Man denke nur an das Gefühl, das einen durchströmt, wenn man ein Baby beim Schlafen beobachtet, ein Kind tröstend im Arm hält oder über seine klugen Fragen staunt. Einfach unbeschreiblich!
Wenn wir wirklich offen und bereit sind, auch von unseren Kindern etwas anzunehmen, dann beschenken sie uns auf vielfältige Weise. Sie machen es uns leicht, Qualitäten wie Mitgefühl, Toleranz und liebende Güte zu entwickeln. Und sie helfen uns, Illusionen aufzugeben, etwa die, ein rundherum guter Mensch zu sein oder das Leben im Griff zu haben. Sie bringen uns immer wieder an unsere Grenzen, fordern uns ständig dazu auf, über uns selbst hinauszuwachsen, und stellen uns permanent infrage. Aber sie dürfen das, sie sollen das sogar, damit wir wachsen können, auch in unserer Rolle als Eltern. Denn als solche sind wir gefordert, uns ethisch und erwachsen zu verhalten, weil wir Verantwortung nicht nur für uns und unser Handeln tragen, sondern auch für unsere Kinder und deren Zukunft. Deshalb kann es uns auch nicht egal sein, wie sich unsere Gesellschaft entwickelt, was auf der Welt passiert und ob die Erde vor einem ökologischen Kollaps steht oder nicht.
Weil wir für unsere Kinder das wichtigste Vorbild sind, können wir ihnen zeigen, was es heißt, sich Tag für Tag zu bemühen, ein gutes Leben zu führen, Verantwortung für sich und andere zu übernehmen und buddhistische Werte zu leben. Indem wir uns fürsorglich um die Bedürfnisse und das Wohl unseres Kindes kümmern und auch in schwierigen Situationen nicht verzweifeln, vermitteln wir unserem Kind eine Vorstellung von liebender Güte. Wenn wir einfühlsam zuhören und Anteil nehmen an den Gefühlen des Kindes, bekommt es eine Ahnung davon, was Mitgefühl und Mitfreude bedeuten können.
Und Gleichmut sowie Gelassenheit können wir beweisen, indem wir die tägliche Routine aus Essen, Schlafen und Windeln wechseln nicht widerwillig, sondern mit Achtsamkeit und Hingabe erfüllen.
Unterstützung bekommen wir dabei wiederum von unseren Kindern. Denn sie sind zum Beispiel Meister darin, ganz im Hier und Jetzt zu leben. Wenn wir sie aufmerksam beobachten, können wir sehen, wie versunken und selbstvergessen sie sind, wenn sie spielen und sich auf etwas konzentrieren. Auch darin können sie uns ein Vorbild sein und uns die Gelegenheit bieten, etwas zu entwickeln, was meist längst verschüttet ist: die Hingabe an den Augenblick. Kinder fordern uns auf, es ihnen nachzumachen, wenn wir dazu bereit sind. Ebenso demonstrieren sie, was es heißt, etwas mit dem Anfängergeist zu entdecken. Wie sie Neues aufnehmen und erforschen, kann uns eine Lehre sein. Zumal wir gerade im Zusammenleben mit unseren Kindern diesen Anfängergeist schulen und alles, was wir schon zu wissen glaubten, beiseitelassen sollten. So können wir die innere Leere des ‚Ich weiß nicht‘ zulassen und uns immer wieder so neu wie möglich und ohne vorgefertigte Meinungen auf unser Kind und die Situation mit ihm einlassen.
Dieser Artikel erschien in der Ursache\Wirkung №. 96: „Buddha’s Way of Life"
Die Herausforderung liegt im bedingungslosen Annehmen.
Hierzu gehört auch eine gehörige Portion Akzeptanz und Gelassenheit, um das anzunehmen, was ist, und Vorstellungen loszulassen, wie es sein sollte. Für uns Eltern heißt das: Wir können uns zum Beispiel darin üben, die Eigenheiten unseres Kindes zuzulassen, seine angelegten Fähigkeiten ebenso wie seine Schwächen anzunehmen und in die Natur des Kindes zu vertrauen. Vielen Eltern fällt es jedoch schwer, das Temperament und die Charakterzüge des Kindes so zu akzeptieren, wie sie sind. Oft versuchen wir, auf das Wesen des Kindes erzieherisch Einfluss zu nehmen, sobald sich Eigenschaften zeigen, mit denen wir schwer umgehen können. Doch der Schlüssel, um zu mehr Gelassenheit zu kommen, liegt ausgerechnet darin, die Individualität jedes unserer Kinder anzunehmen. Jeder Mensch kommt mit einem eigenen, ganz individuellen Gemisch von Wesenszügen auf die Welt, ähnlich seinen körperlichen und genetisch bedingten Anlagen.
Die meisten Eltern machen spätestens beim zweiten Kind die Erfahrung, dass sie keine ‚unbeschriebenen Blätter‘ auf die Welt gebracht haben – obwohl sie das vorher vielleicht erwartet haben.
Um diese Wesenszüge erfassen und akzeptieren zu können, müssen wir unser Kind erst einmal kennenlernen. Dieser Prozess beginnt mit der Schwangerschaft und hört nie auf, denn jeder Mensch verändert sich im Laufe seines Lebens. Letztlich geht es darum, von unserem Kind nichts zu erwarten, was seinem inneren Wesen zuwiderläuft. Denn damit werden weder wir glücklich (weil dieses Vorhaben misslingen und uns frustrieren wird) noch unser Kind, dessen Selbstwertgefühl untergraben wird. Die Herausforderung liegt im bedingungslosen Annehmen. Alle Menschen wünschen sich, bedingungslos geliebt und angenommen zu werden. Doch nur selten erfüllt sich dieses Bedürfnis. Deshalb ist es so wichtig, dass wir diese Herausforderung nicht aus den Augen verlieren, sondern uns bemühen, unser Kind für das zu lieben, was es ist. Eltern können ihren Kindern ein großes Geschenk machen, wenn diese sich so, wie sie wirklich sind, zeigen und ihren eigenen Weg finden dürfen – und sich dabei der Unterstützung ihrer Eltern sicher sein können.