Wenn wir wütend sind, sind wir auch immer verantwortlich, wie wir mit diesen glühenden Kohlen umgehen. Ein feindseliger emotionaler Zustand kann unser empathisches Mitempfinden regelrecht lähmen und viel Schaden anrichten.
Woran können wir uns in der ethischen Selbstführung im Umgang mit Wut und anderen Aversionen orientieren? Unter den Handlungsempfehlungen (den Silas) der buddhistischen Ethik gibt es einen Leitgedanken, der richtungsweisend ist: Ich gelobe, mich darin zu üben, kein Lebewesen absichtlich zu töten oder ihm absichtlich zu schaden. Dem Wort ‚absichtlich' kommt dabei besondere Bedeutung zu. Unsere Absichten stehen in Wechselwirkung mit dem Denken und Handeln und bestimmen unsere Ziele. Entscheidend ist, welcher Art von Gedanken wir Glauben schenken und damit Macht geben wollen: Gedanken, die eine unangenehme, vielleicht beleidigende oder kränkende Erfahrung dramatisieren, Aversionen hochschaukeln und uns einflüstern, dass es gerechtfertigt sei, dem anderen jetzt Schaden zuzufügen, oder Gedanken des Mitgefühls, die trotz unterschiedlicher Standpunkte Harmonie und eine friedliche Konfliktlösung fördern.
Bewusstsein für Verantwortung
Manche Menschen verbinden mit dem Begriff ‚Verantwortung' vor allem die Idee, sich für ihr Tun vor einer höheren Instanz rechtfertigen zu müssen. Verantwortung hat jedoch mindestens zwei verschiedene Bedeutungsrichtungen: Im Hinblick auf die Vergangenheit ist mit Verantwortung die Pflicht verbunden, nachträglich für etwas Geschehenes einzustehen. Schon der mittelhochdeutsche Begriff ‚antwürten' bedeutete, sich vor Gericht gegen eine Klage zu verteidigen. Eine ‚Antwort' war eine Gegenrede oder ein Gegenschwur. Im Hinblick auf die Gegenwart und die Zukunft bezeichnet Verantwortung die Aufgabe, ‚dafür zu sorgen, dass (innerhalb eines bestimmten Rahmens) alles einen möglichst guten Verlauf nimmt, das jeweils Notwendige und Richtige getan wird und möglichst kein Schaden entsteht'. Gemeint ist also Fürsorglichkeit, Schutz, Sorge tragen, sich kümmern, sich mit etwas auseinandersetzen, sich engagieren und teilhaben. Diese Perspektive eröffnet viele kreative Handlungsspielräume.
Ein Mensch, der sich in seiner Wut und Aversion verantwortlich fühlt, will diese kraftvollen emotionalen Zustände weder überspielen noch rechtfertigen: „Der hat es auch verdient!" Er macht sich jedoch mit ihnen vertraut und setzt sich mit ihnen auseinander. Dazu gehört es auch, die klare Absicht zu kultivieren, niemandem Schaden zuzufügen.
Sich mit Ärger und Wut vertraut machen
Man kann sich mit jedem Gefühl vertrauter machen, indem man sich ihm aufmerksam zuwendet und es still beobachtet. Vielleicht registrieren Sie, wie sich Ihre Körperempfindungen, Gefühle und Gedanken verändern, wenn Sie ärgerlich oder wütend werden. Vielleicht können Sie sogar ohne Schwierigkeiten Ihre Erfahrungen präzise benennen und unterscheiden. Um welche Art der Aversion handelt es sich gerade? Wut? Empörung? Ärger? Groll? Hass? Selbsthass? Oder Rachefantasien?
Wenn wir der Wut mit geduldiger, mitfühlender Aufmerksamkeit begegnen, löst sie sich oft auf und andere Emotionen kommen zum Vorschein: Angst, Traurigkeit, Einsamkeit oder ein anderes Gefühl, das wir bisher nicht wahrgenommen haben, weil sich die Wut immer wieder davorgeschoben hat. Mit vielen dieser Gefühle empfinden wir uns als verletzlich und zart. Nicht in jeder Lebenssituation der Vergangenheit mochten wir uns damit zeigen. So kann es sein, dass sich hinter einer persönlichen Neigung zu Ärger oder Wut auch das Bedürfnis nach Schutz, Sicherheit und Akzeptanz der eigenen Verletzlichkeit verbirgt.
Ich gelobe, mich darin zu üben, kein Lebewesen absichtlich zu töten oder ihm absichtlich zu schaden.
Um besser zu verstehen, warum wir Aversionen wie Ärger, Wut, Hass und Gewalt entwickeln, ist es hilfreich, sich besonders zwei emotionale Grundbedürfnisse bewusstzumachen:
1. Das Bindungsbedürfnis: Wir wollen dazugehören und von anderen Menschen akzeptiert werden. Auch von unseren Eltern wollen wir geliebt und gemocht werden. Wenn wir das Gefühl haben, dass dieses Bedürfnis nicht ausreichend erfüllt wird, fühlen wir uns zurückgewiesen. Je intensiver diese Erfahrung ist, desto eher kann sie zu dem Irrtum führen, dass wir nicht liebenswert sind, und damit zum Nährboden für Selbsthass, Wut und Gewalt werden.
2. Das Autonomiebedürfnis: Wir wollen die Freiheit haben, unser Leben selbst zu bestimmen und eigenständige, kreative Entscheidungen zu fällen. Wenn Menschen sich immer wieder als die Unterlegenen in einer autoritär gelenkten Umgebung wiederfinden, kann die Autonomie empfindlich eingeschränkt sein. Übermäßige Kontrolle und Druck rufen in den davon gegängelten Menschen Aversionen hervor. Dies führt in Familien, Schulen, Unternehmen und Organisationen zu vielen Konflikten. Auf politischer Ebene kann es bis zu Gewalttaten und blutigen Revolutionen führen.
In der buddhistischen Geistesschulung ist der verantwortungsvolle Umgang mit Wut und Aversionen ein zentrales Anliegen, bei dem es – grob gesagt – zwei wichtige Übungsrichtungen gibt:
Einerseits hütet man sich davor, weiteres Öl ins Feuer der Wut zu gießen, denn dann geht es von alleine aus. Mit anderen Worten: Wir brauchen Aversionen nicht zu bekämpfen oder uns für sie zu verurteilen. Es reicht, wenn wir ihnen keinerlei neue Energie geben. Sie schwächen sich von alleine ab, wenn man konzentriert bleibt und sich von ihren gehässigen, hitzigen Gedanken nicht hinreißen lässt, Dinge zu tun oder zu sagen, die verletzend sind.
Sobald die feindseligen Emotionen wieder abklingen, ist es allerdings sinnvoll, die Konflikte oder Missverständnisse mit dem anderen zu klären. Denn das Ziel ist es nicht, allen Kontroversen aus dem Weg zu gehen, sondern zunächst emotional abzurüsten, damit konstruktive Gespräche überhaupt möglich werden.
Die zweite wichtige Übung besteht darin, unsere konstruktiven Geisteskräfte zu stärken und damit innere Fähigkeiten und Ressourcen zu bilden, auf die wir auch in emotional schwierigen Situationen zurückgreifen können. Einige dieser Ressourcen sind Vertrauen, Konzentration, Humor oder Freude und vor allem Mitgefühl und Gelassenheit. Die meisten dieser Stärken lassen sich regelrecht einüben und kultivieren.
Gelassenheit durch Selbstmitgefühl
Wenn man in einer bestimmten Situation bereits gereizt und ärgerlich ist, findet man Gelassenheit am schnellsten durch eine mitfühlende Haltung für sich selbst wieder.
Ich möchte Ihnen ein Experiment vorschlagen: Rufen Sie sich eine Situation aus der letzten Zeit ins Gedächtnis, in der Sie ziemlich ärgerlich waren. Überlegen Sie kurz, warum Sie aufgebracht waren. Was war passiert?
Dann erinnern Sie sich, wie Sie vermutlich ausgesehen haben, als Sie ärgerlich waren. Nehmen Sie die gleiche Körperhaltung ein. Spüren Sie bewusst Ihren Körper in diesem Zustand. Spüren Sie den Druck und die Enge. Nehmen Sie wahr, wie fest und angespannt der Körper jetzt wird. Der Muskeltonus und der Blutdruck steigen wahrscheinlich. Achten Sie auch auf die Veränderungen in Ihrem Gesicht und in Ihren Bauchmuskeln. Vielleicht spüren Sie bereits einen leichten Druck im Schädel. Stellen Sie sich rundherum auf Ärger, Abwehr und Widerwillen ein. Was nehmen Sie jetzt wahr? Ist es angenehm oder unangenehm? Warum?
Tun Sie dann etwas, das Sie vielleicht zunächst überrascht:
Legen Sie eine Hand sanft an Ihr Herz. Lenken Sie nun Ihre ganze Aufmerksamkeit dort hin. Atmen Sie. Nehmen Sie, noch während Sie den Ärger spüren, bewusst eine freundliche, wohlwollende Haltung für sich selbst ein.
Bleiben Sie aufmerksam. Beobachten Sie, was passiert, wenn Sie in der schwierigen Emotion sind und bewusst eine mitfühlende Haltung zu sich selbst einnehmen. Folgen Sie mit Ihrer Aufmerksamkeit feinfühlig Ihrer Erfahrung und stemmen Sie sich nicht dagegen. Ruhe und Gelassenheit finden wir in der Mitte unseres Herzens. Dann entspannen Sie sich. Beruhigen Sie sich.
Wenn wir der Wut mit geduldiger, mitfühlender Aufmerksamkeit begegnen, löst sie sich oft auf und andere Emotionen kommen zum Vorschein.
Selbstmitgefühl ist die wohlwollende Haltung gegenüber uns selbst. Es ist kein Geheimnis oder Trick. Sondern nur eine wohlwollende, durch und durch freundliche Beziehung zu sich selbst. Diese innere Haltung ähnelt der eines sehr guten Freundes oder Verwandten, der uns wirklich liebt und beisteht. Selbstmitgefühl bewirkt, dass wir die intensiven Emotionen, die mit der Aversion verbunden sind, loslassen können. Wenn wir uns in Emotionen wie Ärger, Wut, Negativität, Neid, Arroganz oder Rachegefühlen verstricken, haben wir uns verkrampft. Durch die selbstmitfühlende Haltung fühlen wir uns wieder sicher und können uns entspannen. Der Geist beruhigt sich und wird wieder klarer und gelassener.
Dieser Artikel erschien in der Ursache\Wirkung №. 88 „ Ärger"
Gelassenheit durch Besonnenheit
Gelassenheit und ein verantwortungsvoller Umgang mit schwierigen Emotionen können auch durch kluges Nachdenken und Selbstreflexion kultiviert werden. Denn unsere schwierigen Emotionen werden nicht durch das ausgelöst, was eine andere Person macht oder zu uns sagt, sondern vor allem durch unsere ungezügelte gedankliche Reaktion darauf. Kurz gesagt: Uns gehen gelegentlich die Pferde durch! Wir versteigen uns in Interpretationen darüber, welche Bedeutung die Ereignisse für uns haben und ob andere Personen uns wohlgesinnt sind oder nicht. Stellen Sie sich vor, Sie fahren im Auto und jemand drängt Sie ab, so dass Sie stark bremsen müssen. Wenn Sie jetzt anfangen zu denken „Du blöder Knilch, dir zahle ich's heim...", dann stachelt dieser Gedanke bei Ihnen wahrscheinlich Ärger und Rachelust an und Sie handeln entsprechend. Ganz anders würden Sie aber handeln, wenn Sie denken: „Hoppla, Junge, was ist denn mit dir los?" Denn dann würde wahrscheinlich das Maß an Ärger und Rachelust sehr viel niedriger ausfallen oder diese Emotionen würden vermutlich gar nicht erst entstehen.
Jeder Mensch ist in seinem Leben auch von unangenehmen Situationen betroffen. Es ist normal, dass die Dinge manchmal schieflaufen, wir gelegentlich Kritik ernten, schlechte Neuigkeiten empfangen oder Verluste erleiden. Emotional aufgewühlt werden wir erst durch eine unbedachte gedankliche Interpretation der Lage.
Aber wir können uns gerade auch die Interdependenz zwischen Gedanken und Emotionen geschickt zunutze machen und bewusst Gedanken kultivieren, die Gelassenheit fördern! Welcher Gedanke könnte das für Sie sein?
Gelassenheit durch Erkenntnis
Manchmal ist es wertvoll, bewusst mit etwas Abstand zu schauen. Denn wir haben die Tendenz, unsere Lebensperspektive immer wieder zu verengen auf den Kampf um Ansehen, Erfolg oder Lustgewinn, während wir Kritik und Misserfolge sowie jede Form von unangenehmen Erfahrungen möglichst vermeiden wollen. Doch das Leben reißt uns gelegentlich sehr unsanft aus unserer kleinen Gewinner-und-Verlierer-Welt, die uns so stresst und uns oft verärgert: Eine schwere Krankheit oder der überraschende Tod eines geliebten Menschen können vieles infrage stellen. Schicksalsschläge und schwerwiegende Verluste werfen existenzielle Fragen auf, deren Beantwortung oft nicht noch mehr Denken erfordert, sondern Stille und Rückbesinnung auf unser Herz und den klaren Geist.
Vielleicht sollten wir häufiger ganz still werden, damit wir uns aus dieser seltsamen Enge des Kämpfens befreien.
Im tieferen Loslassen erkennen wir, dass sich so manche emotionale Woge von Ärger und Groll und manche Idee, der wir nachgejagt sind, zur Zwangsjacke entwickelt haben. Vielleicht sollten wir häufiger ganz still werden, damit wir uns aus dieser seltsamen Enge des Kämpfens befreien.
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